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![]() Die Stunde der Gurus
Total totalitär: Der Weltmarkt als Kampfzone Von Horst Kurnitzky Überall begegnen wir Formen der Gewalt, die sich wie selbstverständlich im Alltag ausgebreitet haben. Gewalt drückt sich im Umgang der Individuen miteinander wie in den Formen individueller Selbstdarstellung aus. Wo sich jede Verbindlichkeit im Kampf ums Überleben auflöst, treten Konformismus, Subordination und militärische Organisationsformen mit den dazugehörigen, Identität vermittelnden Markenzeichen als neue, Gemeinschaft stiftende Sozialformen auf. Wiewohl bedenklich, sind diese Dinge nicht mehr als Symptome für etwas, das als weltweit neues Phänomen noch gar nicht richtig ins Bewusstsein gedrungen ist. Und das, obgleich die Zunahme der Alltagsgewalt in den postindustriellen Gesellschaften, in Verbindung mit den vielen ethnisch, religiös oder territorial motivierten Kleinkriegen, als deutliche Anzeichen für einen grundlegenden Wandel der sozialen Verhältnisse zu werten sind. Die epidemische Ausbreitung von Gewalt kann als Antwort auf die Entsolidarisierung der Gesellschaft interpretiert werden. Die Tatsache, dass Gewalt nach innen in traditionellen Gesellschaften wie in funktionierenden Stammesgesellschaften ritualisiert und einem Regelwerk unterworfen ist, zeigt, wie wichtig die äußeren und inneren Sozialgefüge für die Sicherheit des Individuums sind. Das bedeutet aber nicht, dass die Desintegration der Gesellschaft durch Rückkehr zu Gesellschaftsformen der Vergangenheit aufzuhalten wäre. Wertekonservativismus ist selbst ein Zerfallsprodukt und steht der Bildung befriedigender Sozialverhältnisse immer im Weg, wenn er nicht schon latente Gewalt repräsentiert. Kinderglaube
Die heute herrschende Doktrin der Ökonomie, wonach der Markt von allen Fesseln zu befreien, jede Regulierung aufzuheben und das freie Spiel der Kräfte nirgendwo zu behindern sei, also das radikal liberale Marktmodell auf den Weltmarkt auszudehnen, damit Angebot und Nachfrage automatisch zu wirtschaftlichem Wachstum und allgemeinem Wohlstand führen, ist ein Kinderglaube, der die immer wieder beschworene unsichtbare Hand zu einer Schicksalsmacht werden lässt. Sie ist die Seele des free market, von der, nach Überzeugung der neoliberalen Ökonomen, das wirtschaftliche Wachstum und die allgemeine Prosperität abhängt. Automatisch auf Gewinn ausgerichtet, wirkt die unsichtbare Hand hinter dem Rücken der Individuen. Als personifiziertes Gewinnprinzip sorgt sie für die Konzentration ökonomischer Macht in einem nie dagewesenen Ausmaß und für die Wiederkehr ältester, autoritärer Sozialstrukturen - natürlich in der verzerrten Form moderner Neuerfindungen. Dabei kann es sich um ethnisch oder religiös motivierte Gemeinschaften handeln, die oft zum Zweck der Durchsetzung ökonomischer Interessen erfunden wurden, um familienähnliche Betriebsgemeinschaften (das Team, das sein Bestes für den Chef gibt) oder um ein Netzwerk, das scheinbar harmlos und doch eine höchst autoritäre Verbindung ist, in der das berauschende Wir-Gefühl der Angeschlossenen das autoritäre Wesen des Netzes nicht ins Bewusstsein dringen lässt oder vielleicht auch als religiöses Erlebnis gesucht wird. Die Auflösung der Gesellschaft in Gruppen und Mafias, die sich in sozialdarwinistischen Ausscheidungskämpfen befinden, ist, vom Standpunkt der Gesellschaft aus gesehen, eine Regression. Denn es handelt sich um archaisierende Sozialgebilde, wo der Kampf von jedem gegen jeden um wirtschaftliche Macht und Verfügungsgewalt das einzige ist, was verbindet. Wiewohl dem biologischen Bild vom Leben in der Natur entlehnt, verkörpert der Sozialdarwinismus doch eine moderne Form des ungehemmten Konkurrenzkapitalismus. Für die Verlierer, und das ist die große Mehrheit der Gesellschaft, bedeutet das die Angst verbreitende Wiederkehr einer längst überwunden geglaubten, übermächtigen Schicksalsmacht. Wenn allein das Gewinnprinzip im Zentrum der wirtschaftlichen Praxis steht, beherrschen Konkurrenz und Wirtschaftskampf auch das soziale Leben bis in den individuellen Bereich. Und survival of the fittest heißt , den Konkurrenzkampf als Naturprinzip der radikalkapitalistischen Wirtschaft in der Gesellschaft zu verankern und damit die Ausbreitung sozialdarwinistischer Gewaltverhältnisse ganz allgemein zu fördern. Kein Wunder, dass mit der ökonomischen Globalisierung auch die Globalisierung der Gewalt Schritt hält. Alte Gemeinschaftsformen
Auf die unerwartete brutale Gewalt, die eruptiv ausbricht oder zur Durchsetzung religiöser, ethnischer und ökonomischer Ziele eingesetzt wird - in Termini der Aufklärung: die Wiederkehr des Schicksals als unkalkulierbare Macht -, wird mit Sicherheitsmaßnahmen, Verteidigungs- und Überwachungsanlagen geantwortet. Die Menschen, die dazu in der Lage sind, igeln sich in Festungen ein, schaffen sich Privatarmeen und suchen in neuen Gemeinschaftsformen das, was die in Auflösung begriffene Gesellschaft ihnen nicht mehr bieten kann. Wo Gattungssolidarität und ökonomische Menschenrechte mit dem Verschwinden von Wohlfahrtsstaat und ziviler Gesellschaft ihre soziale Basis verloren haben, treten neue und wiederbelebte alte Gemeinschaftsformen und Religionen an ihre Stelle. Sekten, bei denen nicht immer ganz klar zu entscheiden ist, ob es sich nun um spirituelle Gemeinschaften oder moderne Wirtschaftsunternehmen handelt, bieten ihren Anhängern Gemeinschaft und paramilitärische Organisation, und Selbsterfahrungsgruppen schließlich locken mit einer Gemeinschaft als Auffangbecken für irritierte Seelen. Gemeinschaften und von Führern organisierte Ethnien sind neue Unternehmensformen, die sich dort ausbreiten, wo zivile Gesellschaften zerfallen. Wo alle Gewissheit verschwindet, schlägt die Stunde der Seher, Gurus und religiösen Führer. Sie haben die Gruppen im Griff und führen sie in neue Formen der Sklaverei. Das bezieht sich nicht nur auf psychische Abhängigkeit. Die Sektenmitglieder haben ihr Vermögen der Sekte auszuliefern und in sekteneigenen Unternehmen als Sklaven zu arbeiten, während die Propheten dadurch unerhörte Vermögen ansammeln. Eine Wirtschaftsform, die durch die Demontage des Wohlfahrtsstaats und den Zerfall der Gesellschaft nur begünstigt wird. Das Bedürfnis nach Sicherheit, sozialem Schutz und Ordnung wird in die religiös und ethnisch organisierte Wirtschaftstätigkeit einbezogen. Auch ethnische Befreiungsbewegungen und fundamentalistische Religionsgemeinschaften sind, unabhängig vom sozialen Elend und der religiösen Motivation ihrer Anhänger, heute meist Wirtschaftsunternehmen mit einer Firmenphilosophie, die die Mitarbeiter sozusagen im Team hält, sie vor selbständigem Denken bewahrt und als kostenlose Arbeitskrieger mit Versprechen auf religiöse oder ethnische Paradiese bezahlt. Sie agieren auf dem informellen wie auf dem formellen Markt. Von Drogenmarkt über Glücksspiel, Geldwäsche und Aktivitäten in allen Bereichen des legalen Marktes bis hin zur Börsenspekulation ist der Weltmarkt zu einer Kampfzone geworden, in der die ökonomische Konkurrenz mit allen Mitteln fortgesetzt wird. Das schließt die sogenannten nationalen Befreiungskriege und religiös motivierten Anschläge mit ein. Hinter dem scheinbar religiösen Konflikt islamischer Fundamentalisten mit der westlichen Welt stehen vor allem auch wirtschaftliche Interessen. In Afghanistan wird nicht nur Opium produziert, das Land könnte auch für den Transport von Öl aus den südlichen Republiken der GUS in den Persischen Golf eine Rolle spielen. Die religiös-autoritäre Bindung fundamentalistischer Gotteskrieger macht sie, ebenso wie die willfährigen Anhänger christlicher Sekten, zu billigen Werkzeugen, die in wirtschaftlichen und politischen Machtkämpfen eingesetzt werden können. Ihre bedingungslose psychische Abhängigkeit ist duldsamer und dauerhafter, als es die Abhängigkeit von Sklaven je war. Heute scheint der Kampf um ethnische oder religiöse Autonomie auch zur Strategie einiger Unternehmen des informellen Markts zu gehören: die ethnische oder religiöse Bewegung als Firmenmantel, ihre Kriege als Teil der wirtschaftlichen Aktivitäten. Wirtschaft mit anderen Mitteln. Im Gegensatz zur Demokratie stehen weltweite Ethnisierung und "kollektive Identitäten" fundamentalistischer Glaubenskrieger kapitalistischen Verwertungsinteressen nicht im Weg, im Gegenteil, sie sind hilfreich, weil sie zur Zerstörung der zivilen Gesellschaft beitragen. Identität und Nicht-Identität
In dem Maß, wie die neuen religiösen und ethnischen Bewegungen Wirtschaftsunternehmen geworden sind, können moderne Wirtschaftsunternehmen nicht auf Religion, Philosophie, korporative oder stammesähnliche Organisationsformen verzichten. Über die reine Funktionalität des Sozialdarwinismus hinausgehende Rationalität, Autonomie und Selbstorganisation der Individuen werden mit Hilfe von Firmenmythen und Kultveranstaltungen in eine ethnische Gemeinschaft gepresst. Hymnen, Rituale und Beschwörung des Teamgeists erinnern an Stammesriten und Stammeskulte, die die Angestellten in eine Gemeinschaft verwandeln, an das Firmenimperium binden und mit Angst vor jedem Eigenwillen erfüllen sollen. Die Wiederkehr des Schicksals, von Aberglaube, Religion und Gewalt sind Symptome einer in die Krise geratenen Zivilisation. Ihr Projekt ist an seinen eigenen Widerspruch gestoßen, nämlich Universalismus ohne seine Entsprechung in der Realität, Menschenrechte ohne ökonomische Sicherheitsgarantien durchsetzen zu wollen. Jede spezifische Identität, das Wort sagt es schon, schließt alles damit nicht Identische aus. Ein alter Mechanismus, der bestimmt, wer dazugehört und wer nicht. Heute wird mit "kollektiver Identität" Gruppenzugehörigkeit beschworen. Was einmal Rassen und Völker waren, sind "kollektive Identitäten" geworden. Egal ob es sich um Ethnien oder Religionsgemeinschaften handelt, "kollektive Identitäten" erkennen keinen Universalismus an, weder eine zivile Gesellschaft noch allgemeine Menschenrechte. Das erste Recht eines jeden Menschen, nämlich ein mit anderen nicht identisches Individuum zu sein, schließt die "kollektive Identität" von vornherein aus. In ihr kehren ethnische Gemeinschaften und Stämme, selbst die archaische Horde wieder. Ihr Totalitarismus erweist sich als Widergänger der totalitären Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts, während die europäischen und amerikanischen Propagandisten der "kollektiven Identitäten", sich als intellektuelle Wegbereiter eines neuen Faschismus zu erkennen geben. Der Text ist ein Auszug aus der Studie "Die unzivilisierte Zivilisation", die dieser Tage im Campus Verlag erscheint.
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