Demokratie fällt
nicht vom Himmel, und sie kann selbst durch die
freundlichste Besatzungsmacht nicht in der Gesellschaft
verankert werden. Die Demokratie in der Bundesrepublik ist
das Ergebnis von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen,
politischen Kämpfen und widerstreitenden Lernprozessen.
Alles in allem ist die Geschichte der Bundesrepublik auch
im Fach Demokratie fast unverschämt glücklich verlaufen.
Das sollte einen nicht dazu verleiten, frühere
Auseinandersetzungen zu reinem Wahnsinn zu erklären und
diesen zudem nur auf einer Seite, nur in der Revolte zu
suchen.
Die frühen Jahre standen unter starker Spannung
zwischen demokratischen Freiheitsversprechen und eingeübten
Hierarchien. Die Prägung durch Befehl und Gehorsam war
unvereinbar mit einer demokratischen Entwicklung. Sie
wurde nur in dem Maße schwächer, wie Befehle verweigert
und Gehorsam aufgekündigt wurde.
Die Geschichte der Republik war nicht nur ein
Deckchensticken. Um es gleich zu sagen: Der Staatsgewalt
bin ich mit einer einjährigen Haftstrafe, 1975 zu zwei
Dritteln abgesessen, nichts schuldig geblieben. Der
schwere Landfriedensbruch, der damit geahndet wurde, hatte
in dem Versuch bestanden, mit anderen eine Polizeikette zu
durchbrechen, die 1971 mitten in Heidelberg eine Tagung
der Weltbank weiträumig abschirmte. Der Protest der gut
2000 Demonstranten hatte sich gegen dreierlei gerichtet
Gegen den Vietnamkrieg, für den der vormalige
US-Verteidigungsminister und die Tagung präsidierende
neue Weltbankchef McNamara stand. Seither hat er selbst
die Rechtfertigungen des von ihm mit verantworteten
Krieges verworfen. Gegen die portugiesische Kolonialmacht
in Afrika, deren Projekte die Weltbank finanziell unterstützte.
Erst vier Jahre später sollte die
"Nelkenrevolution" Portugal von der Diktatur
befreien, den Krieg in Afrika beenden und Mocambique,
Angola und Guinea-Bissao in die Unabhängigkeit entlassen.
Vor allem aber richtete sich unser Protest gegen die
Zumutung, eine Versammlung der Herolde der Weltkapitals in
unserer Stadt, einer Hochburg der Studentenbewegung,
hinnehmen zu sollen. Hier mischten sich revolutionäre
Hybris und biederer Lokalpatriotismus. Die Mischung war
etwas versponnen.
Vom Wert, ins Gefängnis zu gehen?
Es gelang der Demonstration nicht, direkt vor das
Tagungshotel zu gelangen. Doch scheiterte auch die Polizei
bei dem Versuch, die Demonstration zu vertreiben. Der
Nimbus des Heidelberger SDS wuchs erst recht, als der
baden-württembergische Innenminister, ein Sozialdemokrat,
ihn kurz darauf verbot. Die Einsatztruppe der Polizei
wurde später zum Schutz der Olympischen Spiele nach München
abkommandiert. Sie galt als besonders hart gesotten.
War die Sache es wert, dass für sie schließlich an
die zehn frühere Heidelberger SDS-Genossen 1975
monatelang ins Gefängnis gingen? Hat es sich für die
Staatsgewalt gelohnt, derart massiv Recht zu behalten?
Für entscheidend halte ich, dass mit den teilweise
gewaltsamen Auseinandersetzungen Ende der 60-er, Anfang
der 70-erJahre ein folgenreicher Lernprozess begonnen hat:
Staatsfunktionäre, Hoheitsträger und zu Staatsfeinden
sich mausernde Studenten und Jugendliche mussten überhaupt
erst lernen, sich als Individuen, als Bürgerinnen und Bürger
gegenseitig anzuerkennen und zu respektieren und die
Republik als ihre gemeinsame politische Arena zu
begreifen.
Wenn ich die Bildsequenz anschaue, die Joschka Fischer
als Schläger entlarven soll, sehe ich zu Beginn einen
Polizeitrupp, der Beute wittert, dann einen knüppelschwingenden
Polizisten auf der Jagd, schließlich einen die Chance zur
Gegenwehr nutzenden Demonstranten mit Helm, um den sich
sein Rudel sammelt. Das Ganze ist nicht schön. Der Anfang
der Sequenz ist typisch für die Zeit. Knüppelbewehrten
Vorwitz bös' zu bestrafen, war dagegen eine eher
untypische Reaktion von Demonstranten.
Die "Studentenkrawalle", die "gewalttätigen
Auseinandersetzungen" zwischen Studenten und Polizei
sind ursprünglich sehr einseitig gewesen und fast immer
geblieben. Erst gab es Prügel von der Polizei, dann die
Anzeige wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Die
Gerichte folgten meist der Logik, dass einem Knüppel nur
unterkommen kann, wer ihm widerrechtlich in den Weg läuft.
Schnell war der Hausfriedensbruch festgestellt. Als
Landfriedensbruch galt die Teilnahme an einer
Demonstration, die als Verkehrsstörung routinemäßig
nicht genehmigt waren war. Ohne diese Polizei- und
Justizlogik wäre die Amnestie der sozialliberalen
Koalition 1970 nicht notwendig geworden. Aber da war die
Eskalation der Einsätze schon in Gang gekommen.
Das Bildnis eines Außenministers
Die überraschend heftige Konfrontation nährte die
teils abwegigen, teils überkandidelten theoretischen Bemühungen
der "Neuen Linken". Hinter der Staatsgewalt
musste mehr stecken als eine autoritäre Tradition, das
eigene Handeln musste auf mehr zielen als
Selbstverteidigung. Marxismus und Kommunismus erlebten
ihre Renaissance, und so gelangten wir über begrenzte und
einseitig interpretierte Eindrücke im Schnellkurs zu
allzu grundsätzlicher Kritik der Staatsgewalt und der
Legitimität der Bundesrepublik.
Wenn angesichts eines Bildnisses des Außenministers
als eines jungen Mannes lauthals Entschuldigungen verlangt
werden, sollte sich freilich auch der eine oder andere
Oberkommissar fragen, ob ihn sichere Straflosigkeit und
fehlende Gegenwehr nicht manchmal zu Gewaltexzessen
verleitet haben. Bilder, die dafür sprechen, gibt es
zuhauf. Für die verbiesterten 70-er Jahre müssen sich
viele verantworten. Schauen wir die Bildsequenz noch mal
an: Die Polizisten wie ein Teil der Demonstranten sind mit
Helmen vermummt. Gewalt will anonym bleiben, Anonymität
verleitet zu Gewalt. Gesicht zu zeigen, vor allem sich
gegenseitig in die Augen sehen zu können, sind Bedingung
einer zivilen Gesellschaft. Als die minoritären
Protestbewegungen mit den Grünen in den Parlamenten
sichtbar wurden, hörten sie auf, Prügelknaben zu sein.
Überhaupt wird seither weniger geprügelt. Mit
anachronistischen Schuldzuweisungen gehen auf allen Seiten
teuer erkaufte Erfahrungen der deutschen Demokratie
verloren.
Joscha Schmierer war ein Sprecher der Heidelberger
Studentenbewegung und 1968 im Bundesvorstand des SDS. 1973
war er Mitbegründer des maoistischen KBW, der sich 1983
auflöste. Er war danach Redakteur der Monatszeitschrift
"Kommune". Seit Mai 1999 arbeitet er im
Planungsstab des Auswärtigen Amtes. Dass er hier
ausschließlich seine persönliche Meinung vertritt,
braucht kaum eigens betont zu werden.
Tagesspiegel
vom 15.01.2001