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Von Werner Mathes
und Jens Rötzsch (Fotos)
Dieter Kunzelmann, 59,
trägt wieder einen struppigen Bart. Im September 1997 war der Apo-Veteran und
Bürgerschreck untergetaucht. Mit seiner Flucht aus Deutschland entzog er sich
einer Gefängnisstrafe von einem knappen Jahr, die er wegen zweier
Eier-Attacken auf den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen,
verbüßen soll. Seitdem wird Kunzelmann per Haftbefehl gesucht. Am 3. April vorigen
Jahres veröffentlichte die "Berliner Zeitung" eine Anzeige:
"Nicht nur über sein Leben, auch über seinen Tod hat er frei bestimmt.
Dieter Kunzelmann. 1939-1998." Hatte sich der kauzige Polit-Provokateur
tatsächlich das Leben genommen? Oder sich nur einen üblen Scherz erlaubt? Der hätte trefflich in
die schillernde Biographie des gebürtigen Bambergers gepaßt: Mitglied der
Münchner Künstlergruppe "Spur", Gründer der "Subversiven
Aktion" und Mitinitiator der legendären "Kommune 1" in Berlin
und der Stadtguerilla-Gruppe "Tupamaros Westberlin", dann von 1970
bis 1975 Häftling in Berlin-Tegel und zeitweise Mitglied der maoistischen
KPD, von 1983 bis 1985 Abgeordneter der Alternativen Liste im Berliner
Stadtparlament, danach Archivar in der Kanzlei des Anwalts Christian
Ströbele. Als im vergangenen Herbst
Kunzelmanns Autobiographie* erschien, schrieb der "Spiegel":
"Niemand weiß, ob er noch lebt." Und die "Frankfurter
Rundschau": "Der Alt-Kommunarde ist - tot oder lebendig - von der
Bildfläche verschwunden." Der STERN allerdings fand im Januar Indizien,
daß Kunzelmann wohlauf ist (STERN Nr. 3/1999: "Aufgetaucht"). Jetzt
stellte sich der "Aktionspolitologe" zu einem Gespräch.
STERN: Warum haben Sie Ihren Selbstmord
vorgetäuscht? KUNZELMANN: Ich hatte die Idee schon lange.
Wenn ein Haftbefehl besteht, gibt es nichts Besseres, als tot zu sein. Und im
November 1997 habe ich mit meinem Freund, dem dänischen Künstler Jens-Jœrgen
Thorsen, auf dem Flughafen von Kopenhagen überlegt: Wenn ich jemals eine
Chance habe, glaubwürdig scheintot zu sein, dann jetzt. STERN: Wer wußte davon? KUNZELMANN: Zunächst nur Jens- Jœrgen
Thorsen. Wir hielten Kontakt, als ich Ende 1997 von Dänemark nach Südeuropa
umgezogen bin. Unser Codewort: "Viva la muerte." Am 11. Februar
1998 habe ich dann zwei Freunde aus Berlin in mein neues Exil eingeladen und
ihnen meine Idee vorgetragen. Nach langen Diskussionen waren wir der Meinung,
daß man das machen kann. Zwei weitere Freunde, die Bescheid wußten, haben
dann die Todesanzeige aufgegeben. Natürlich war auch meine Familie
eingeweiht. STERN: Viele andere Weggenossen und
Bekannte werden sich nun von Ihnen an der Nase herumgeführt fühlen. KUNZELMANN: Es ist schon eine sehr
schwerwiegende Entscheidung, seinen Freitod bekanntzugeben, wenn er nicht
stattgefunden hat. Ich bitte auf diesem Weg all jene um Entschuldigung, die
ernsthaft um mich getrauert haben. Es war nicht meine Absicht, mit Gefühlen
zu spielen. STERN: Warum verkünden Sie gerade jetzt:
Hurra, ich lebe noch! KUNZELMANN: Ich hatte von Anfang an geplant,
nur bis zum Jahre 1999 tot zu bleiben. Ich bin ein Mensch, der gern zehn Schritte
vorausdenkt. Das habe ich als Kind beim Schachspiel gegen meinen Vater
gelernt. Meine Wiederauferstehung wollte ich ursprünglich aus dem Jenseits
als unabhängiger Direktkandidat für die Berliner Wahlen zum Abgeordnetenhaus
im Oktober zelebrieren - gegen den Regierenden Dieb und den Mompitz. STERN:Sie meinen Eberhard Diepgen und
Walter Momper? KUNZELMANN: Ja. Ich wollte wissen, was
passiert, wenn eine Leiche gegen die anderen Leichen antritt. Eine Idee, die
ich mir aber wieder abschminken mußte, weil in Berlin die Direktwahl des
Stadtoberhauptes nicht möglich ist. STERN: Und nun? KUNZELMANN: Will ich die elfeinhalb Monate
Knast hinter mich bringen. STERN: Dazu müssen Sie sich stellen. KUNZELMANN: Das habe ich vor. Vielleicht
schon am 23. Mai, wenn im Reichstag dieser Pietist aus Elberfeld zum neuen
Bundespräsidenten gewählt wird. STERN: Wollen Sie sich etwa im Reichstag
festnehmen lassen? KUNZELMANN: Das wäre doch eine schöne Bühne
für eine spektakuläre Aktion. STERN: Was haben Sie vor? KUNZELMANN: Mal sehen. Vielleicht komme ich
als Dagmar Schipanski, die für die CDU/CSU antritt. Schauen Sie bitte genau
hin! STERN: Und wenn das nicht klappt? KUNZELMANN: Dann stelle ich mich spätestens
am 14. Juli, nach der Feier meines 60. Geburtstages. Meine Gäste werden mich
dann bis vors Tor des Tegeler Knastes geleiten. STERN: Wo waren Sie, als Ihre
Todesanzeige veröffentlicht wurde? KUNZELMANN: Im südlichen europäischen
EU-Inland. Wo genau, verrate ich Ihnen nicht. Ich bin in diesem Land, wo ich
fast eineinhalb Jahre gelebt habe, als politischer Flüchtling der
Bundesrepublik Deutschland ungewöhnlich solidarisch behandelt worden. Es
haben mich prominente Menschen aufgenommen und finanziert, die keinen Wert
darauf legen, daß irgendwann ihre Namen herauskommen. Ich habe noch nie so
angenehm gelebt wie in dieser Zeit. STERN: Haben Sie sich dort amüsieren
können, wie daheim in den Medien über Ihren angeblichen Freitod spekuliert
wurde? KUNZELMANN: Natürlich. Ich hatte ständig über
diverse Kuriere einen regelmäßigen Kontakt nach Hause. Und deutsche Zeitungen
konnte ich in meinem Exil überall kaufen. Es war für mich eine völlig neue
Erfahrung, als Toter lebend herumlaufen zu können. STERN: Seit wann sind Sie wieder in
Berlin? KUNZELMANN: Seit einigen Wochen. STERN: Als Richard Kimble der Apo, wie
man Sie einmal genannt hat, haben Sie sich schon häufig verstecken müssen.
Aber in Berlin sind Sie bekannt wie ein bunter Hund. Ist dieses Pflaster
nicht viel zu gefährlich für Sie? KUNZELMANN: Nein. Berlin ist eine riesige
Stadt. Je mehr Menschen auf einem Fleck sind, desto weniger achtet der eine
auf den anderen. STERN: Wie leben Sie? KUNZELMANN: Relativ normal. Ich besuche gute
Freunde, war auch schon auf zwei Veranstaltungen, wo mich niemand erkannt
hat. Natürlich muß ich mich dafür ein wenig verkleiden. In dieser Stadt leben
Zehntausende von Illegalen, ich bin nicht der einzige. Man ist hier sicher,
solange man sicher auftritt. Man muß allerdings gewappnet sein. STERN: Wie? KUNZELMANN: Ich bin ein eingefleischter
Schwarzfahrer. Jetzt habe ich natürlich immer eine gültige Tageskarte für
7,80 Mark dabei, wenn ich Bus oder U-Bahn fahre. Ich will ja nicht bei einer
Fahrscheinkontrolle auffliegen. Und ich muß blitzschnell reagieren können, wenn
mir jemand von hinten auf die Schulter klopft und brüllt: Na, wieder
auferstanden? STERN: Ist das schon passiert? KUNZELMANN: Einmal. Da hab' ich mich
umgedreht, sehr ernsthaft geschaut und gefragt: Hab' ich einen Doppelgänger?
Sie müssen mich verwechseln. STERN: Wo wohnen Sie? KUNZELMANN: Sie erwarten jetzt hoffentlich
nicht meine Adresse. Nur soviel: Ich habe eine Wohnung in einem Bezirk der
ehemaligen Hauptstadt der DDR. Dieses Quartier werde ich aber spätestens
wechseln müssen, wenn dieser STERN herauskommt. STERN: Sie sind zu fünf Monaten Haft
verurteilt worden, weil Sie mit einem Ei den Dienst-Mercedes des Regierenden
Bürgermeister Diepgen attackiert haben. Das war am 11. Oktober 1993, beim
ersten Spatenstich für den Potsdamer Platz. Damit wollten Sie gegen
Immobilienspekulation und städtebaulichen Größenwahn protestieren. Haben Sie
den neuen Platz inzwischen mal inspiziert? KUNZELMANN: Nein. Das ist eine reine
Touristen- und Busineßzone geworden. Dieser Platz atmet nicht. Also ist er
nichts für mich. STERN: Durch Ihren Eierwurf splitterte
damals die Windschutzscheibe von Diepgens Dienstfahrzeug. Wie konnte das
passieren? KUNZELMANN: Da müssen Sie Mercedes-Benz
fragen. Ich war selbst überrascht. Es war ein frisches, rohes, deutsches Ei,
Güteklasse A. STERN: Während des Prozesses haben Sie
dann am 20. Dezember 1995 dem anwesenden Zeugen Eberhard Diepgen ein weiteres
Ei auf dem Kopf ausgedrückt. Warum? KUNZELMANN: Ich hatte mich geärgert, daß ich
angeklagt worden war und nicht die politisch Verantwortlichen für dieses
architektonische Schandmal Potsdamer Platz. Außerdem hat es mich sehr
gereizt, mal wieder in diesem hochgesicherten Kriminalgericht Moabit in
Aktion zu treten. STERN: Wie sind Sie mit Ihrem Ei durch
die Kontrollen gekommen? KUNZELMANN: Zwei Eier hatte ich so versteckt,
daß sie bei der Durchsuchung gefunden werden mußten. Das dritte Ei trug ich
in einem Suspensorium zwischen meinen beiden eigenen. Es war ein relativ
kleines Ei gewesen, eins von freilaufenden Hühnern. Das habe ich dem
Regierenden dann in einem passenden Moment auf dem Kopf zerdrückt. Mit einem
Gruß, der von Herzen kam: "Frohe Ostern, Sie Weihnachtsmann!" Dafür
wurde ich noch einmal zu sechs Monaten verknackt und zudem mit einer
14tägigen Ordnungshaft belegt. STERN: Während Sie im Exil waren, sind
Ihre ehemaligen Parteifreunde in die Bundesregierung gewählt worden. Haben
Sie den Wahlabend verfolgt? KUNZELMANN: Nicht am Fernsehapparat, sondern
am Radio. Deutsche Welle hab' ich gehört. Mit einem sehr schlechten Gefühl. Mir
war von vornherein klar, daß sich die Grünen total unterbuttern lassen und
daß sie wegen ihrer Postengeilheit alles mitmachen würden. Aber daß sie mit
in den Kosovokrieg ziehen würden, hätte ich damals noch nicht für möglich
gehalten. Das ist das Ende der grün-alternativen Bewegung. Allerdings gibt es
jetzt wieder die Chance für eine neue oppositionelle Bewegung. STERN: Ihre Mutter ist am 9. März 90
Jahre alt geworden. Haben Sie ihr gratuliert? KUNZELMANN: Natürlich. Ich war sogar bei ihr
in Bamberg. Aber ihr gesundheitlicher Zustand hat sich seit unserer letzten
Begegnung im September 1997 extrem verschlechtert. Sie konnte ihre Freude
nicht mehr verbal artikulieren, sondern nur noch durch Berührungen und
Gesichtsausdrücke. STERN: Wird Ihr Spruch "Was geht
mich der Vietnamkrieg an, solange ich Orgasmusschwierigkeiten habe?" Ihr
berühmtester bleiben? KUNZELMANN: Ich verrate Ihnen jetzt ein
Geheimnis: Dieser Spruch ist nicht von mir. Er fiel mal während einer
Pressekonferenz im April 1967. Ich glaube, er stammt von Rainer Langhans -
ich kann es aber nicht beschwören. Er wurde aber mir zugeschrieben, und ich
habe es nie dementiert. Mir gefiel, daß sich dadurch viele Frauen
aufgefordert fühlten, meine angeblichen Schwierigkeiten genauer zu überprüfen.
STERN: Wo werden Sie Silvester feiern? KUNZELMANN: In der Justizvollzugsanstalt Tegel. Ich bin sehr stolz, das Ende dieses schrecklichsten Jahrhunderts der Menschheitsgeschichte im Gefängnis verbringen zu dürfen. Ein würdiger Ort für dieses Ereignis. Und wenn mir Ausgang angeboten wird, lehne ich ihn ab. |
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