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Aufruhr
in Bolivien Meine Lieben,
Coroico, vom 5 - 12. Juni 2005
Diesen Brief/Bericht habe ich vor ein paar Wochen verfasst, dann
funktionierte jedoch Internet nicht gut, sodass ich ihn mit einiger
Verspätung abschicke.
Inzwischen ist es wieder ruhig und Bolivien bereitet sich auf die nächsten
Wahlen vor....(19.Juli 2005)
Mein Leben sieht momentan so aus: Ich arbeite intensiv im Garten. Während
des Jätens und Pflanzens erzählt mir Sebastian, was er am Abend davor im
Fernsehen gesehen oder was er mittags in den Nachrichten gehört hat. Und
dann sprechen wir darüber. Heute erzählte er, dass der Präsident Carlos
Mesa - wieder einmal - seinen Rücktritt angeboten hat.
Hier etwas Hintergrund, der mir länger geraten ist als ich dachte: Die an
Gas und Erdöl reichen Departamentos im Süden (Tarija) und Osten das Landes
(Santa Cruz) fordern Autonomie und eine liberale Wirtschaftspolitik, der
Westen (La Paz, Alto, Altiplano, Oruro, Potosi, Cochabamba und Sucre)
fordern die Nationalisierung der Gasvorkommen sowie die rasche Einberufung
einer Verfassungsgebenden Versammlung (Constituyente), von der sie sich ein
Ende der Herrschaft der bürgerlich-weißen Minderheit, der neoliberalen
Politik sowie soziale Reformen erhoffen. Bauernverbände, Gewerkschaften,
die Bevölkerung der Stadt El Alto, Minen-Arbeiter, Lehrer und Studenten
blockieren seit bald zwei Wochen das Land. Immer mehr Organisationen
schließen sich diesen Protesten an: mit Streiks, Hungerstreiks, Märschen
und der Besetzung von Bohrstellen.
Die Stadt La Paz ist von Bauern und Bergarbeitern sowie der Bevölkerung des
Alto lahmgelegt. (El Alto liegt gleich oberhalb von La Paz. Dort lebt eine
Million meist junger Menschen in ärmsten Verhältnissen). Die
Transportarbeiter streiken, die Geschäfte werden von den Demonstrierenden
gezwungen zu schließen und Passanten, die blond sind oder Krawatten tragen
oder eine Demo durchqueren wollen, bekommen eins mit der Chicote
übergezogen. Die Chicote ist eine Peitsche, die beim Zusammentreiben des
Viehs gebraucht wird. Die Leute in den besseren Vierteln fürchten, dass
ihre Häuser geplündert werden. Flughafen und Busbahnhof sind geschlossen.
Die Bauern, die Gemüse produzieren, wollen es nicht mehr liefern. Vor allem
das Gas, mit dem alle kochen, wird knapp, ebenso das Benzin. Die Plaza
Murillo, wo der Regierungspalast steht und die Regierung arbeitet, wird von
Polizei beschützt. Doch diese wird ständig von Demonstranten angegriffen,
die diesen Platz - als ein Symbol der Macht - erobern wollen. Die Polizei
verschießt Unmengen an Tränengas und hat so ihre Position bislang behaupten
können. Die Minenarbeiter haben ihrerseits Unmengen an Dynamit, das sie zur
akustischen Einschüchterung wie Bomben detonieren lassen. Die Bevölkerung
gibt diesen demonstrierenden Gästen von La Paz Verpflegung und Unterkunft,
doch viele hungern auch und schlafen auf den Strassen. Der Bürgermeister
der Stadt, Juan del Granado, sowie Kommunalpolitiker, Künstler und
Intellektuelle, die Vereinigung der Architekten, der Rechtsanwälte und der
Kirche haben in rund hundert Zentren einen Hungerstreik begonnen. Sie
unterstützen die Forderungen der Demonstrierenden, fordern jedoch auch
Rücksicht auf die Gebäude der Stadt sowie die Not der Bevölkerung. Eine
Gruppe von Bauern legte vorübergehend die Wasserzufuhr der Stadt lahm.
Während all dies in La Paz und im Land Bolivien passiert, ist es in Coroico
lieblich und friedlich wie eh und je. Sogar noch friedlicher als sonst,
denn es verkehren keine Busse. Die Touristen sind alle abgereist und keine
Neuen kommen. Von Coroico tönt Musik und ich jäte, lese, besuche Nachbarn
und meine Arbeiter bauen Möbel und verwandeln die ehemalige Comuna-Küche in
eine weitere Cabaña. Die Bauern der Yungas sind bei der Obsternte und
deswegen nicht an Blockade interessiert. Doch ab einem bestimmten Zeitpunkt
können sie nicht abseits stehen und so begannen auch hier die Blockaden.
Jeden Tag wird von weiteren Streiks und Blockaden im Land berichtet. Wie
hieß doch der Spruch "Wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder
still". Nun, es sind keine Räder von Maschinen, doch der gesamte Verkehr in
Bolivien ist lahmgelegt. Seit den letzten Bürgerschaftswahlen haben wir
eine Mehrheit des sozialistischen MAS, der Partei des Cocabauern-Führers
Evo Morales. Da ich inzwischen Vize-Präsidentin der Hotelvereinigung bin,
ging ich ins Dorf, weil ich wusste, dass wir uns irgendwie zur Situation
verhalten und äußern müssen. Wir beriefen eine Mitgliederversammlung ein.
Da war ein Brief vom Tourismus-Direktor des Bürgermeisteramtes, der uns
aufforderte zu beschließen, wie wir die Blockade unterstützen wollen. Er
fragte nicht ob, sondern nur wie. Interessant. Ich war gespannt, wie die
Mitglieder reagieren würden, denn die Meisten sind gegen die Blockaden,
umso mehr, als ja unsere Hotels leer stehen. Letztes Mal, im Oktober 2003,
hatten die Hoteleros aus Angst, nicht aus politischer Einsicht, die
Blockierer mit Essen unterstützt.
Ja, über dieses Phänomen hatte ich damals schon gestaunt: diese Mischung
aus Angst, Gehorsam und Solidarität. Unser Sub-Präfekt, der auch ein Hotel
besitzt, sagte: "Naja, das Bürgermeisteramt ist jetzt unter der Fuchtel der
Bauerngewerkschaften , das weiß man ja, doch man bräuchte es nicht so offen
zu zeigen. Diesmal kochen wir nicht. Letztes mal hat sich Doña Lydia sogar
noch beschwert über das Essen. Wir schicken einfach je zwei Blockierer pro
Hotel". Damit war die Sache gelaufen. Alle waren einverstanden. Wer nicht
einverstanden war, schickte niemanden. Und hielt den Mund.
Ich glaube, dieses Verhalten kann verallgemeinert werden, nur dass der
Gruppendruck bei Gewerkschaften und Bauern hundertprozentig wirkt. Viele
bezeichnen das als Diktatur. Doch dieses Verhalten ist in alten Sitten der
indianischen Landbevölkerung begründet. In der Verwaltung der Gemeinden
galt das Prinzip der Rotation von Ämtern. Der jeweilige Rat beriet solange,
bis sich alle einig waren. An den einmal gefassten Beschluss mussten sich
alle halten. Dies ist ein anderes Prinzip als das Demokratische, wo die
Mehrheit beschließt und (angeblich) individuelle Freiheit herrscht.
Ich selber habe meine Zweifel an der Forderung der Nationalisierung der
Gasvorhaben, nicht an ihrer Berechtigung, sondern an ihrer
Durchführbarkeit. Das Parlament hat, nach ewig verzögerten Debatten,
endlich ein Gas-Gesetz verabschiedet. Dies war einem Teil der Bevölkerung
zu wenig und dem Präsidenten und den ausländischen Firmen (England,
Spanien, Brasilien) zu radikal. Letztere beginnen nun mit Prozessen, sich
dem Gesetz zu entziehen und die Regierung, nolens volens, versucht, es
durchzusetzen. Es ist mir unverständlich, wieso man in solch einer
Situation versucht, die Nationalisierung der Gasvorhaben durchzusetzen. Mit
oder ohne Entschädigung? Und wenn mit: Wer soll das bezahlen. Und wenn
ohne: Hat Bolivien dazu die Macht? Jetzt schon ziehen ausländischen Firmen
ihre Investitionen zurück.
Die zweite Forderung, die Constituyente, wird von der Mehrheit (im Westen
des Landes) unterstützt. Doch das Parlament zögert die Einberufung der
Wahlen hinaus und gibt der Forderung des Ostens nach Autonomie den Vorrang.
Diese Autonomie-Forderung kann man so oder so betrachten. Bolivien ist ein
zentral gelenkter Staat. Die Präfekten werden nicht gewählt, sondern vom
Präsidenten bestimmt. Wären die Gasvorkommen nicht in den Ländern des
Ostens konzentriert und wäre nicht zu befürchten, dass diese die Autonomie
so vehement fordern, weil sie sich die Einkünfte aus dem Gasexport aneignen
wollen, wäre gegen die Umwandlung Boliviens in eine Art Bundesrepublik
nichts einzuwenden, im Gegenteil. Doch obendrein befürchten die Eliten der
Ost-Länder, die neue Verfassung könne ihnen unliebsame Landreformen und
soziale Gesetze aufdrücken. Aus diesem Grund hat sie die Bevölkerung von
Santa Cruz mobilisiert und fordert ein Referendum, das vor der
Verfassungsgebenden Versammlung über die Autonomie-Frage entscheiden soll.
Das Parlament spielte auf recht undurchschaubare Weise bei diesen
Machtkämpfen mit. Aus diesem Grund haben die Basisorganisationen den Kampf
um die Constituyente mit solch radikalen Mitteln aufgenommen und fordern:
Autonomie Nein! Verfassungsgebende Versammlung Jetzt. Eine unselige
Polarisierung.
Die Situation wird verkompliziert durch die Tatsache, dass die vor vier
Jahren gewählten Abgeordneten im Parlament nicht mehr die politischen
Mehrheiten im Land vertreten. Dort herrschen immer noch die als überkommen
geltenden Parteien MIR und MNR der gestürzten Regierung Sanchez de Lozada,
die sich ihrerseits in verschiedene Fraktionen aufgespalten haben. Der
Präsident des Senates, Hormando Vaca Diaz vom MIR tut alles, um dem
populären Präsidenten Carlos Mesa das Regieren unmöglich zu machen -
vielleicht auch aus Rache, weil Carlos Mesa sich beim Volksaufstand im
Oktober 2003 auf Seiten des Volkes gestellt und die Regierung mitgestürzt
hat.
Ihr habt Euch vielleicht gewundert, wieso Polizei und Militär zulassen,
dass mehrere Großstädte und das ganze Land mit Demonstrationen, Besetzungen
und Blockaden lahmgelegt wird. Nun, Sanchez de Lozada ist nicht zuletzt
deswegen gestürzt worden, weil er die Streiks und Blockaden im Oktober 2003
mit Militär bekämpft und sich mit seinem Schießbefehl 60 Tote aufs Gewissen
geladen hat. Sein Nachfolger Carlos Mesa hat beim Regierungsantritt
erklärt, dass er unter keinen Umständen die Staatsgewalt auf diese Weise
gegen das Volk einsetzen wird. Und er hat sein Wort gehalten. Und die
Militärhierarchie hat ihn dabei unterstützt. Dieser Gewaltverzicht von
Seiten eines Staatsoberhauptes und seiner Streitkräfte scheint mir das
Erstaunlichste und Bemerkenswerteste an den historischen Ereignissen des
letzen Jahres zu sein. Doch es wird von fast niemandem ausreichend
gewürdigt. Im Gegenteil.
Gestern las ich in der Zeitung, dass gemäss einer Umfrage zur Zeit 34% der
Bevölkerung eine Militärdiktatur begrüßen würde. Ein Händler aus Coroico,
bei dem ich seit Jahren Baumaterial einkaufe, sagte mir: "Sigrid, weißt du
was ich für die beste Lösung halte? Eine Militärregierung, aber aus
ehrlichen, fähigen Militärs, sagen wir für 10 Jahre. Und die werden uns
dann beibringen, was Demokratie ist". Ja, dieses Ungestört-Leben und
Arbeiten und Geld-Verdienen, danach sehnen sich viele. Ärzte müssen mit
ansehen, wie Kinder sterben, weil sie nicht zum Krankenhaus gebracht werden
können. Menschen warten seit Tagen und Wochen in kalten Flughäfen und Bus-
Terminals darauf, weiter zu reisen. Vieh stirbt und Früchte verfaulen. Der
Schulunterricht fällt aus. Der ökonomische Verlust von Unternehmen und
Handel geht in die Millionen. Deshalb wird das Nicht-Einsetzen von Polizei
und Militär gegen die Blockierer und Demonstranten als die größte Schwäche
des Präsidenten angesehen. Hormando Vaca Diez sagte, mit seiner zukünftigen
Präsidentschaft liebäugelnd: "Momentan gibt es gar keine Autorität, keinen
Staat". Sobald Carlos Mesa zurücktritt, rückt, entsprechend der Verfassung,
der verhasste Hermando Vaca Diez auf seinen Posten nach. Das Volk schreit
"Niemals". Carlos Mesa wusste um das Chaos, das sich bei seinem Rücktritt
noch vergrößern würde, doch er konnte seine Politik des Nicht-Einschreitens
nicht mehr fortsetzen, ohne einen Kampf der Bürger untereinander zu
riskieren. Er reichte seinen Rücktritt ein und bat Vaca Diez, um den
Frieden des Landes willen, seinerseits auf die Nachfolge und
Präsidentschaft zu verzichten. Damit wäre der Weg frei für die
Präsidentschaft von Rodriguez, den (unbescholtenen) Präsidenten des
Obersten Gerichtshofes, der innerhalb von 3 Monaten Neuwahlen ausrufen
müsste.
Das war am Montag. Seither wartete das Land darauf, Vaca Diez möge sich
entscheiden und den Kongress rasch einberufen. Doch er blieb auf seinem
Landgut in der Nähe von Santa Cruz und ließ einen Tag nach dem anderen
verstreichen. Wollte er das Chaos im Land auf einen Höhepunkt zutreiben
lassen? Wollte er, dass es doch noch zum Blutvergießen kommt? In La Paz
marschieren die Bergarbeiter in geschlossener Formation Schulter an
Schulter in dichten Tränengas-Schwaden die schmale Strasse auf die
Polizeikette zu, um die Plaza Murillo zu erobern... In Santa Cruz prügeln
Jugendliche auf blockierende Bauern ein... In La Paz bilden sich Komitees,
die die reichen Viertel im Falle eines Angriffes der Bauern verteidigen
sollen....
War die Forderung nach Nationalisierung des Gases und der Constituyente
noch diejenige einer kämpferischen Minderheit - und eventuell einer
schweigenden Mehrheit -, so ist die eindeutige Mehrheit der Bevölkerung nun
gegen Vaca Diez als Präsidenten und fordert Neuwahlen. Bislang hatten fast
alle Parteien Neuwahlen gefürchtet: Die traditionellen Parteien, weil sie
wissen, dass sie damit eventuell verschwinden und der MAS, weil er sich
noch nicht stark genug fühlt. Doch nun scheinen Neuwahlen die einzige
Möglichkeit, das Land zu befrieden.
Schließlich berief Vaca Diez auf seinem Gutshof eine Pressekonferenz ein
und berief das Parlament nicht, wie üblich, in die Hauptstadt La Paz,
sondern für Donnerstag ins ruhige Sucre ein. Zwei weitere Tage des Wartens
erschienen dem Land in diesem Moment wie eine Zumutung. Während Vaca Diez
noch seine ausschweifende Rede hielt, zeigte das Fernsehen weiterhin sein
Bild, doch wurde telefonisch Evo Morales interviewt. Man sah also Vaca Diez
und hörte Evo Morales, wie er die hermanos campesinos aufforderte, Sucre zu
belagern. Heute fragen sich viele, was Vaca Diez sich wohl gedacht hat, als
er Sucre als angeblich stillen Tagungsort wählte. Denn Potosi mit seinen
Tausenden von Bergarbeitern ist nur knappe vier Autostunden von Sucre
entfernt und Sucre selbst ist von dicht besiedelten Dörfern umgeben. So
sahen alle mit großer Spannung diesem Donnerstag, dem 9.Juni 2005 entgegen.
Hier in Coroico war es ein Regentag und wir strichen die Küche des
Restaurants von Sol y Luna, diskutierten und hörten Radio. Zum Glück sind
Maria, ich und meine Angestellten politisch so ziemlich einer Meinung. Da
ich Zeitung lese, bin ich oft besser informiert als die Anderen, die nur
fernsehen. Doch der eine hat dies, der Andere das gelesen, gesehen und
gehört und so gibt es eine Menge zu erzählen wenn wir beisammen sind.
Das Parlament sollte um 10 Uhr zusammen treten. Alle warteten aufs höchste
gespannt. Nachdem die Abgeordneten in Sucre eingetroffen waren, begann sich
der Kreis der Blockaden der Bauern um Sucre wieder zu schließen. Mittags um
12 gab die Gewerkschaft der Fluglotsen den Streik auf allen Flughäfen
Boliviens begannt: "Ya no vuele ni una mosca". (Jetzt fliegt nicht mal ne
Fliege). Doch statt des Parlaments saßen nur die Wortführer der
parlamentarischen Gruppen mit dem Senatspräsidenten beisammen und
diskutierten Stunde um Stunde. Doch über was? Die Sitzung wurde erst auf
16, dann auf 18 Uhr verschoben... Hunderte von Bergarbeitern strömten in
die Stadt. Nur der innerste Kern mit den Tagungsgebäuden und den Hotels war
von Polizei abgesperrt und gesichert. Der Rest der Stadt gehörte den
Demonstranten. Gegen 6 kam die Nachricht, dass ein Bergarbeiter von
Militärs erschossen worden sei. Kurz darauf verließen die Parlamentarier
panisch den Sitzungssaal, um in ihre Hotels und eventuell zum Flughafen zu
eilen... Doch der war von Minenarbeitern umlagert und war wegen des Streiks
der Fluglotsen sowieso leer und still. Eine Parlamentarierin berichtete,
dass alle Parteien, selbst MNR und MIR, den ganzen Tag über versucht
hätten, Vaca Diez zum Rücktritt zu bewegen, doch ohne Erfolg. Doch wo war
Vaca Diez jetzt? Die Situation hätte nicht brisanter sein können.
Die Reporter berichteten atemlos von den Kämpfen an allen Zufahrtsstrassen
zur Plaza. Jeder wusste, wenn Vaca Diez in die Hände der Demonstranten
fällt, dann ist es um ihn geschehen. Doch es gelang ihm, in einem rasenden
Wagen, von zahllosen Polizisten auf Motorädern eskortiert, über brennende
Barrikaden hinweg in Richtung einer Militärkaserne zu fliehen. An diesem
Punkt verließ ich mein Radio und begab mich zu meinem Nachbarn, um mir das
alles im Fernsehen anzusehen. Doch es war als sähe ich Bilder einer anderen
Wirklichkeit: Kinder, die in Kirchen beten und Frauen, die weinen, weil
ihre Männer Soldaten sind. Sowie eine stille, abgeriegelte Plaza, der
beruhigende Text, dass Vaca Diez sich in einem Militärlager in Sicherheit
befindet und die verbissenen Gesichter zweier blonder Nachrichten-
Sprecherinnen... Der Rest war Schweigen und Warten. Schließlich kündigte
ein Sprecher eine Botschaft von Vaca Diez an und ließ durchblicken, dass
Vaca Diez seinen Rücktritt bekannt geben werde. Ein Seufzer der
Erleichterung ging durch das ganze Land. Zwar hielt er eine hasserfüllte
Rede gegen Carlos Mesa, den Präfekten von Sucre sowie Evo Morales und
beschuldigte sie eines Komplottes gegen ihn, doch er erklärte seinen
Rücktritt. Ab diesem Moment ließen die Demonstrationen nach, strömten die
Parlamentarier zum Tagungsgebäude, der Kongress begann zu tagen und
innerhalb von einer halben Stunde wurde der neue Präsidenten Rodriguez in
sein Amt eingesetzt und vereidigt. Am nächsten Morgen flog er nach La Paz,
um sein schweres Amt anzutreten. Fast alle Blockaden im Land wurden
aufgehoben, die Steine beiseite geräumt, die Lastautos und Busse rollten
wieder und die Flugzeuge flogen. Die Bergarbeiter marschierten nochmals im
Angedenken an ihren gefallenen Minero durch die Stadt, dankten der
Bevölkerung, verabschiedeten sich, stiegen auf ihre Laster und fuhren ab.
Die Geschäfte wurden geöffnet und (fast) alle gingen wieder an ihre Arbeit.
Alle Welt lobte Bolivien wegen seiner Konstitutionalität. Denn wir haben
einen verfassungsmäßig korrekt eingesetzten Präsidenten. Ist das nicht
toll? Gestern las ich den ganzen Tag Zeitung. Die verschiedenen
Organisationen haben zwar die Blockaden aufgehoben und die Bergarbeiter
sind abgezogen, doch ist dies nur ein Waffenstillstand und nur für die
Dauer von 10 Tagen!!!! Oh!! Habe ich mich zu früh gefreut?
Da nun Neuwahlen anstehen, ist es interessant zu wissen, welche Gruppen
oder Parteien es gibt und wer mit wem ein Bündnis eingehen kann. Links
außen gibt es die Assembleistas, die unser ehemaliger Präsident als eine
"kleine radikale Minderheit" bezeichnete. Sie besteht aus Studenten,
Gewerkschaftern, Lehrern und einigen Bauernführern und hat eine
trotzkistische Ausrichtung. Es wurde behauptet, sie würden von der Rechten
bezahlt, von Leuten wie Sanchez de Lozada, der nichts anderes im Sinn hat
als Carlos Mesa zu stürzen. Diese Gruppierung fordert eine
Militär/Arbeiter/Bauern-Regierung, um Nationalisierung und Constituyente
durchzusetzen. Den neuen Präsidenten Rodriguez bezeichnen sie als
"Präsidenten der herrschenden Klassen und der Minderheiten" (Wahrscheinlich
hat da jemand Klassenbewusstes das Wort "weiße Minderheit" in
"Minderheiten" verwandelt.) und weigern sich, mit ihm zu reden.
Die Bevölkerung vom Alto ist eine Bewegung für sich, sehr radikal, jedoch
ideologisch offener. Sie sind bereit, mit dem Präsidenten zu reden, wenn er
zu ihnen kommt.
Der sozialistische MAS unter Evo Morales, hat sich auf den langen Marsch in
die Institutionen gemacht und hofft, auf demokratischem Weg und mit
Aktionen der Massen die Macht im Staat zu erobern.
Die Linke Mitte wird von Bürgermeistern wie Juan del Granado, von
Intellektuellen und sonstigem Mittelstand vertreten. Sie stehen etwas links
vom geschiedenen Präsidenten Carlos Mesa, der seinerseits zwar eine große
Unterstützung in der Bevölkerung, jedoch bislang keine eigene Partei oder
Organisation zur Verfügung hat. Als er gefragt wurde, ob er bei den
kommenden Wahlen wieder als Präsident kandidieren werde, sagte er: "Ich
weiß nicht. Es war hart, sehr sehr hart".
In einem Aufruf von Juan del Granado, den Verbände der Rechtsanwälte,
Architekten, Gewerkschaften, Märkte, Stadtteilverbände und Unternehmer
unterschrieben haben, heißt es:
"Wir befinden uns noch im finstern Tunnel, doch sehen wir schon ein Licht. * Dank allen, die am Hungerstreik teilgenommen haben, denn damit haben wir gezeigt, dass die Stadt La Paz und der Alto solidarisch sind. * Wir wünschen die Normalisierung unseres Lebens. * Baldige, saubere Wahlen, Kongress und Verfassungsgebende Versammlung in einem * Wir fordern einen Kongress, der den Neoliberalismus zu Grabe trägt und die Bodenschätze Boliviens ganz und gar in den Besitz des bolivianischen Staates überträgt". (Sie sagen nicht "Nationalisierung". Was meinen sie?) "Wir sind für die Wahl der Präfekten und eine Autonomie, die in der Gesetzgebenden Versammlung erarbeitet wird. * Dank an alle Bürgermeister der anderen Städte (Oruro, Cochabamba, Sucre und Potosi), die mit ihrem Hungerstreik den Überfall der Kräfte von gestern auf die Staatsmacht mit verhindert haben". ..... Eine gute Chance in den kommenden Wahlen hat Tuto Quiroga, der smarte
neoliberale Politiker und Ex-Präsident aus der Regierung Banzer, sowie der
Unternehmer Doria Medina, der aus dem MIR austrat und eine eigene Partei
gründete.
Es gibt eine große Minderheit im Land, die für ihre Forderungen das Land
lahm legen kann. Doch bei parlamentarischen Wahlen kann sie noch keine
Mehrheit erringen. Das Volk ist stark in seinem Nein gegen die alten
Parteien, die bald von der Bildfläche verschwinden, doch tauchen neue,
unverbrauchte Politiker auf, die schöne Worte machen, und sie werden
gewählt
Das Volk, das Nationalisierung und Constituyente fordert, geht von einer
raschen Verbesserung seiner Lebensqualität unter einer Volksregierung aus.
Doch wie das? Der Bolivianische Staat ist vollkommen von ausländischen
Hilfsgeldern abhängig. Und wenn die ausbleiben? Ich sehe nicht, dass jemand
bereit ist, Opfer zu bringen und die Konsequenzen einer Isolierung
Boliviens zu ertragen. Meine Angestellten, die Nationalisierung fordern und
auf den Präsidenten Evo Morales hoffen, gingen nur deswegen zur Blockade,
weil ich ihren Lohn weiter bezahlte und einer wollte noch nicht mal bezahlt
zur Blockade gehen, sondern lieber arbeiten. Der gleiche Mann berichtet mir
mit Begeisterung, dass das Militär die Volksbewegung niemals niederschlagen
könne, weil "die Jugendlichen vom Alto den Tod nicht fürchten und bereit
sind, für ihre Forderungen zu sterben". Während eines Gespräches, in dem
ich meine Bedenken äußerte, sagte einer schließlich: "Selbst wenn alle
Forderungen unrealistisch sind, da ist einfach diese Wut..". Ja, diese in
500 Jahren aufgestaute Wut kann ich sehen und muss sie, als Historikerin
und psychologisch Gebildete, akzeptieren. Neben der Hoffnung auf soziale
Gerechtigkeit ist sie die Energie in allen diesen Kämpfen.
Diese Kämpfe zeigen jedoch mehr und mehr eine rassistische Komponente.
Angefangen haben die Spanier und die katholische Kirche vor 500 Jahren, als
sie die Indios als seelenlos definierten und sich anmaßten, sie zu
versklaven und physisch zu liquidieren. Bis heute ist bei den hellhäutigen
Bürgerlichen das Wort Indio ein herabwürdigendes Schimpfwort. Es gibt einen
Dünkel und einen Hass der Weißen auf die Indios und Bauern, der sofort ans
Tageslicht kommt, wenn die Indios es "zu weit treiben". Der Rassismus der
Weißen und die Diskriminierung der Indios ist so Alltag in Bolivien, dass
sich kaum einer dessen bewusst ist. Erst wenn der Bauernführer Mallku gegen
die weiße, herrschende Klasse wettert, wird er als Rassist angegriffen. Zu
diesem historischen Hass zwischen dunkel und hell, arm und reich, kommt der
mir künstlich erscheinende und absichtlich genährte Dünkel und Hass der
Bevölkerung aus Santa Cruz, der Cambas, auf diejenige vom Altiplano, den
Collas. Zur Durchsetzung politischer Ziele geht man dazu über, Bolivianer
verschiedener Herkunft und kulturellem Hindergrund aufeinander zu hetzen.
In den 70iger Jahren haben die europäisch-linken Ideologen in Bolivien die
Massen, vorwiegend Bergarbeiter und Gewerkschaften, betont klassenbewusst
erzogen und alles, was mit Rasse zu tun hat, als überholt und unwürdig
beiseite gelassen. Bei den Bauern griff das Klassenbewusstsein jedoch nie
so richtig. Die Avantgarde der 70iger und 80iger Jahre wurde im Rahmen der
von den USA geleiteten Action Condor, von Banzer und von Garcia Meza,
physisch und psychisch eliminiert. Inzwischen ist eine neue Gruppe von
Führern heran gewachsen. Mallku, der die Bauern des Altiplano organisierte,
sprach sie nicht nur als Bauern an, sondern auch als Indios, als Menschen
mit eigener Tradition und Kultur. Auch Teile der Mittelschichten begannen,
sich ihrer andinen Wurzeln zu besinnen. Evo Morales, ein Indio, hat den
Sprung vom Gewerkschaftsführer der Cocabauern zu einem politischen Führer
geschafft. Ich kann sehen, wie es Honig auf die Seele aller Indios ist,
dass ein Mann wie er es geschafft hat, sich Respekt zu verschaffen, ja eine
Chance hat, Präsident der Republik zu werden. Seine politische Linie ist
sekundär, seine Identität ist wichtig. Sie vermittelt seinen Anhängern
Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen. Es mag der Wassermann in mir sein,
den es so tief berührt, wenn sich Angestautes und lange Unterdrücktes
endlich befreit, ohne erneut negatives Karma zu schaffen. Doch der Hass ist
zu groß, als dass wir erwarten dürfen, dass es nicht auch zu Exzessen
kommt.
Ich las dieser Tage in einem Buch von Martin Schulmann "Der Aszendent". Der
Autor macht den Unterschied, ob wir unser Verhalten von unserer Seele, also
aus unserem Innern leiten lassen oder ob wir unsere Aufgaben aus dem Außen,
der Gesellschaft und ihren Regeln beziehen. Er spricht von einem
persönlichen und einem unpersönlichen Karma (Gesellschaft, Geschichte) und
sagt, dass nicht alles unpersönliche Karma in gleichem Maße bedeutsam für
das persönliche Karma sei.
Ich selbst bin stark von dem Gedanken geprägt, dass man sich
gesellschaftlich engagieren muss. Dass man der Ungerechtigkeit in der Welt
nicht tatenlos zuschauen darf. Seit ich hier in Coroico lebe, gut lebe,
hadere ich mit meiner Situation. Ich muss meinen inneren Frieden immer
wieder neu finden und mich mit dem Zweifel herumschlagen, ob ich hier so
friedlich leben darf, während um mich herum, nun, zur Zeit 96 km weiter
entfernt, die Kämpfe toben. Deswegen finde ich es interessant, wenn einer
schreibt: "Leben Sie mit einem Aszenten in Fische außerhalb ihrer selbst,
so kann Ihr großes Mitgefühl für andere Sie leicht zum Märtyrertum
verleiten. Sie absorbieren die Art und Weise, wie andere etwas zu lösen
versuchen, und verfallen in die Illusion, das Unmögliche selbst lösen zu
wollen. Sie sehen, wie andere versuchen, die Dinge zusammenzubringen und
Lösungen zu formulieren. Das ist aber nicht Ihr Weg. Statt karmische
Probleme zu lösen, besteht Ihr Pfad in der Auflösung des Karmas, im
Loslassen von Problemen. Sie können Ihre Identität von der magnetischen
Anziehungskraft des unpersönlichen Karmas distanzieren...". Da wird also
gesagt, das ich mich nicht schlecht fühlen muss, wenn ich nicht mitwirbele
im gegenwärtigen Geschehen. Im Gegenteil. Ich soll mich davon weder hoch
noch herunter ziehen lassen. Die meisten Leute lassen sich davon herunter
ziehen. Dabei reagiere ich automatisch mit Hochziehen. Als ich Mittwoch ins
Dorf ging, fühlte ich mich - wieso eigentlich? - richtig high. Der erste,
der mir unterwegs begegnete und den ich fragte, wie es ginge, sagte
"Schlecht, Sigrid, schlecht. Bolivien liegt am Boden zerstört". Ich
entgegnete: "Aber wieso? Es ist doch gut, wenn Menschen, die solange
unterdrückt waren, nun ihr Haupt erheben". "Meinst du?" Auch der nächste
antwortete: "Es ist eine Katastrophe. Wie es wohl enden mag?" Ganz Bolivien
ist eine einzige Angst und Sorge. Es gehört sich besorgt zu sein und Angst
zu haben. Doch viele zeigen trotz allem einen gesunden Humor. Ich weiß, ich
hab gut reden. Ich habe keine Familie zu versorgen, sehe nicht ständig fern
und lebe im ruhigen Coroico.
Ich halte mich zur Zeit an folgende Maxime: Ich lebe mein Leben so, wie ich
es von Moment zu Moment für richtig halte, ohne mich dem historischen
Prozess in Bolivien freiwillig aufzudrängen. Falls die Ereignisse nach mir
greifen, werde ich mich ihnen stellen. Eine unserer größten
Herausforderungen im Leben ist, keine Angst zu haben. Ich weiß nicht, was
alles noch geschehen wird, doch ich will es dazu nutzen, der Angst keine
Macht über mich zu geben. Momentan fällt es mir nicht schwer. Vielleicht
ist diese Angst auch gar nicht meine Herausforderung.
Ich lese mal wieder eines von diesen zahlreichen Büchern, die uns erklären,
dass wir mit unseren Gedanken und Gefühlen unsere Zukunft erschaffen.
Dieses Buch ermuntert uns zum Wünschen. Natürlich wünsche ich der Welt
Frieden und allen, mir einschließlich, Gesundheit, Reichtum, Weisheit,
Freude, Kreativität und Liebe....Doch ich habe für mich ganz persönlich
keinen speziellen Wunsch. Ich glaube, unbewusst ersehnte ich wohl Freiheit,
denn die habe ich jetzt. Zumindest solange ich mich hier in Sol y Luna
aufhalte. Zwischendurch fühlt sich diese Ruhe und Freiheit leer an und
Zweifel überfallen mich. Und dann komme ich wieder zu dem Schluss, dass ich
genau dieses will: nicht festgelegt und nicht gezwungen sein, sondern in
jedem Moment spüren dürfen, was ich als nächstes anpacken möchte.
Ja, mein Wunsch war wohl, Euch diesen Text zu schreiben und zu schicken.
Sigrid Fronius hat eine eigene Website: www.solyluna-bolivia.com
Resultate der Wahlen werden vorgestellt in New Left Review 37 (Jan/Feb 2006): FORREST HYLTON - The Landslide in Bolivia |