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68 und Rütli - Es kam, wie es in der nach68er Bundesrepublik immer kommt, wenn die Konservativen sich in einer Sackgasse fühlen. Sie suchen ihre eigenen Fehler mit einem Angriff auf 68 vergessen zu machen. Im konkreten Fall geht es um Gewalt in Schulen im Allgemeinen, um den Hilferuf des Kollegiums der Neuköllner Rütli-Schule im Besonderen. Nachdem der autoritär agierende und ignorante Schulsenator Klaus Böger (SPD) einfach weiter wursteln will, als ob nichts geschehen wäre und alles schönredet und sich damit in direktem Widerspruch zum betroffenen Bezirksbürgermeister Buschkowski (auch SPD) befindet, der schon seit langem vor dem Ghettogemisch im sog. Reuterkiez gewarnt hatte, bietet er damit eine Angriffsfläche für diejenigen, die sich nun klammheimlich aus der Verantwortung stehlen wollen. Den bisherigen Höhepunkt für diese Tendenz liefert Berthold Kohler mit einem Leitartikel in der FAZ vom 6.4.06, "Die Erblast von Achtundsechzig", in dem er auf einen rechtsradikalen Diskurs einschwenkt. Während die NPD-Postille "Deutsche Stimme" schreibt, "die antinationalen Hassprediger, die Grünen als Nachgeburt der volksverachtenden und vaterlandslosen 68er" würden für ein "Deutschland ohne Deutsche" sorgen wollen, formuliert Kohler: "Besonders für die aus der Studentenbewegung hervorgegangene Linke gehörte der Import fremder Kulturen zum Entnationalisierungsprogramm, mit dem das Deutschsein der Deutschen möglichst stark verdünnt werden sollte". Es stimmt zwar,
dass im Klima der restaurativen Adenauerrepublik die aufkeimende
Studentenbewegung die deutsche Nation angesichts der von ihr verübten
Verbrechen, die damals erst knapp 20 Jahre zurück lagen, schärfstens
kritisierten und es Vielen peinlich war, dieser Nation anzugehören,
aber es waren nicht sie, die "fremde Kulturen" importierten.
Dies blieb der CDU-Regierung vorbehalten, die im Auftrage der
expandierenden Großindustrie das sog. "Gastarbeiterprogramm"
initiierten. Es wurde auf Erweiterung und nicht auf Intensivierung der
Kapitalakkumulation gesetzt. Die importierten Arbeitskräfte wurden
zunächst in "Gastarbeiterheime" gepfercht und sich im übrigen
allein gelassen. Niemand kümmerte sich um sie, bis die Studenten sie
als integralen Teil des Proletariats, wie es damals hieß, entdeckten
und sie mit linkem Propagandamaterial bedachten. Das ganze ausgehende
zwanzigste Jahrhundert behauptete die CDU, Deutschland sei kein
Einwanderungsland, obwohl sie selbst es war, die Millionen Menschen
aus "fremden Kulturen" ins Land geholt hatte. Von
Integrationsbemühungen keine Spur. Mit der Wende 1989 wurde es ganz
schlimm, nun ignorierte man die "fremden Kulturen" nicht nur,
sondern hätte sie am liebsten mit den "Brüdern und Schwestern"
aus den "Beitrittsgebieten" ersetzt. Die "Fremden"
wurden nun mehr oder weniger ausgegrenzt und diese kapselten sich in
ihrer "Herkunftsidentität" ein, wurden nationalistisch,
muslimisch, islamistisch usw. Die Linke antwortete auf diese Vorgänge
unterschiedlich. Die Gewerkschaften und linken Politgruppen bemühten
sich um Integration der KollegInnen in ihre Strukturen, die
Alternativbewegung entwickelte den Multikulturalismus, eine Ideologie,
die identitär ausgerichtet war, wie ihre eigene. Jeder sollte sein
Ding betreiben können und das sollte von der Mehrheitsgesellschaft
akzeptiert werden. Kohler formuliert für das feine Publikum, Politiker fürs breite Volk. Da wird's dann auch schon mal drastischer. General Schönbohm (CDU), Innenminister in Brandenburg, fordert wie sein in Berlin wahlkämpfender Parteigenosse Pflüger auch, schon mal die Ausweisung von unbequemen "Fremden", wobei Schönbohm nicht länger herum reden will, für ihn besteht das Problem "hauptsächlich" aus den "islamischen Migranten". Jeder, der sich nicht integrieren lassen wolle, "muss gehen". Andere Politiker, hauptsächlich von der CDU, wollen zumindest die Einbürgerung von "Fremden" grundsätzlich erschweren und wollen nicht etwa, wie die Baden-Würtemberger, nur islamistische Extremisten herausfiltern. Nun geben sie zwar zähneknirschend zu, dass Deutschland faktisch doch ein Einwanderungsland ist, aber dann, so sagen sie, müssen die Einwanderer auch alle deutschen Mittelgebirge und Friedensnobelpreisträger kennen, sowie über die pseudodemokratischen Wahlen in der DDR bescheid wissen. Mit dem in Hessen vorgeschlagenen Test könnten Kalifatsanhänger gut leben. Sie würden die Fragen auswendig lernen, wie bei der Führerscheinprüfung, und schon bekämen sie den so begehrten, wenn auch verachteten deutschen Pass. Bei all diesem Getöse gehen Stimmen, wie die von Renate Kühnast unter, die auf die Versäumnisse ihrer CDU-Kontrahenten hinweist, auf deren Obstruktion bezüglich der Ganztagsbetreuung, auf die Gewaltproblematik in sachsen-anhaltinischen Schulen, in denen es praktisch keine Migranten gibt. Unter gehen auch die Erkenntnisse, die der Kriminologe Christian Pfeiffer in groß angelegten Studien heraus gefunden hat: "Seit 1997 geht die Gewalt an deutschen Schulen stetig zurück". Der verheerende Selektionsmechanismus des dreigliedrigen deutschen Schulwesens darf nicht infrage gestellt werden. Fakten, wie PISA-Ergebnisse, langfristige Kriminalstatistiken usw. stören offenbar bei der konservativen Ideologieoffensive. Wollen Kohler und seine Gesinnungsgenossen aus CDU und zum Teil auch aus der SPD uns weismachen, dass sämtliche Hauptschulrektoren in Berlin verblendete 68er wären, die der Permissivität huldigten und deshalb die Auflösung der von ihnen geleiteten Schulform fordern? Wer hat denn ständig am Schuletat gekürzt, wer hat denn die Sozialarbeiter aus den Brennpunktschulen abgezogen, wer hat denn die Bibliotheken in Oberstufenzentren und anderen Schulen schließen lassen, wer hat denn Jugendklubs verkommen lassen, wer hat denn die Lehrerschaft des Faulenzens geziehen, wer hat denn die Warnungen aus Gewerkschaftskreisen nie hören wollen? Bevor die Politik nicht generell umdenkt, Mittel bereit stellt und auf Reformkonzepte zurück gegriffen werden kann, die beispielsweise gerade auch an der Rütli-Schule schon erprobt, bevor sie von den Nazis gerade dort im ehemals roten Kiez vernichtet wurden, so lange wird sich nichts ändern und uns das Ghetto mit seinen Problemen erhalten bleiben. Es wird keine grundsätzliche Hilfe sein, Sicherheitsdienste und Videokameras einzuführen, sowie andere Repressionsmittel zu intensivieren, statt intensive Sozialarbeit zu rekonstituieren, statt Schul- und Jugendarbeit auf neue Grundlagen zu stellen. Die Diskussion um Multikulti muss auch geführt werden, aber nicht als Ablenkungsinstrument. Berlin, den 6.4.06 Nachtrag:Jörg Schönbohm formuliert sein identitäres Projekt, die "Schicksalsgemeinschaft" des "deutschen Staatsvolkes", also der sattsam bekannten, von ihm semantisch ersetzten "Volksgemeinschaft" Berthold Kohler ist Journalist. Als solcher darf er
natürlich Unsinn verbreiten, auch wenn es ein schlechtes Licht auf
diejenigen wirft, die das veröffentlichen, wie in diesem Fall die FAZ.
Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung setzt am 23.4.06 aber noch
einen drauf und publiziert einen Gastkommentar
des Brandenburgischen Innenministers, Ex-General Jörg Schönbohm,
in dem dieser Kohlers Thesen ungeniert aufgreift. Er behauptet, erst
der Brandbrief der Rütli-KollegInnen hätte die jetzt entstandene
Diskussion ermöglicht. Bis dahin wäre das "Meinungsbild"
in Deutschland "von der Generation geprägt" gewesen,
"die seit 1968 im 'Marsch durch die Institutionen'
Schritt für Schritt an die Macht gekommen war." |