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Islam und Islamismuskritik in Deutschland

Zwischen Blauäugigkeit und Dämonisierung

Von Eberhard Seidel

Der Islam weckt Emotionen. Spätestens seit der iranische Revolutionsführer Ajatollah Khomeini und die Mullahs 1979 im Iran gewaltsam die Macht übernommen haben und 1989 eine Todes-Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie verhängt hatten. Vorbei ist die Zeit, zu der sich die europäischen Gesellschaften eine neutrale oder exotistische Haltung gegenüber dem Islam leisten konnten. Denn mit dem Erstarken radikalislamistischer Strömungen keimen vielerorts Ängste, ob diese totalitäre Bewegung oder gar der Islam selbst zu einer Gefahr für den Westen werden könnte. Das Unbehagen wurde mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und den zahlreichen Nachfolgetaten nicht weniger.

Gleichzeitig wurde der Islam in den 60er und 70er Jahren durch die millionenfache Zuwanderung aus dem Mittelmeerraum auch in der Bundesrepublik zu einer relevanten gesellschaftlichen Größe, der bereits 4% der in Deutschland lebenden Bevölkerung angehören. Tendenz steigend.

Selbstbewusst fordern Muslime ihre im Grundgesetz verbrieften Rechte auf freie Religionsausübung ein: Den bekennenden islamischen Religionsunterricht an Schulen, die Errichtung islamischer Bekenntnisschulen und islamischer Sozialeinrichtungen. Spekulationen und Hoffnungen der Vergangenheit, die zweite oder dritte Generation der Einwanderer werde keine größeren religiösen Bedürfnisse entfalten, haben sich als Trugschluss erwiesen. Im Gegenteil: Je weniger die soziale, politische, kulturelle und ökonomische Integration türkischer und arabischer Jugendlicher gelingt, desto wichtiger wird für einen Teil von ihnen die Religion. Dies bleibt das letzte Identitätsmerkmal, das ihnen von Geburt aus zukommt und das ihnen niemand nehmen kann.

Die Sinnsuche der Jugendlichen geht einher mit einem Paradigmenwechsel in der Politik islamistischer und islamischer Gruppen. Der französische Politologe und Islamismusexperte Gilles Kepel (1) hat in seinem Aufsatz "Rechte der Gläubigen im gottlosen Europa" darauf hingewiesen. Bis vor zehn, fünfzehn Jahren hätten islamistische Gruppen den alten Kontinent nicht als Gebiet des Islam (dar al-Islam) betrachtet. Europa gehörte, im Gesamtbereich der Gottlosen (dar al-kufr), zu einem Gebiet vertraglichen Friedens (dar al-ahd) wo die Muslime es nicht zu einem Konflikt mit der gottlosen Umgebung kommen ließen, im Gegensatz zu den Gebieten des Krieges (dar al-harb), wo Dschihad erlaubt ist. "Konkret bedeutet dies", so Kepel, "dass Europa heiliges Gebiet war, ein Zufluchtsland für alle in den Ursprungsländern verfolgten Bewegungen. Diese Gruppen vermieden daher jeden Konflikt, der sie den europäischen Behörden gegenüber in Schwierigkeiten gebracht hätte". Genau hier fand der Wechsel statt. Europa, so Kepel, wird nun als dar al-Islam betrachtet. Das heißt, die Muslime sind nun hier zu Hause und müssen nach den Regeln der Scharia leben können. Ziel ist jetzt, islamisierte Räume zu schaffen, in denen eine vom Islam bestimmte moralische Ordnung gilt.

Islamische Verbände leiten daraus konkrete Forderungen ab, zum Beispiel das Recht auf das Schächten von Tieren und auf das Tragen des Kopftuchs oder die Befreiung von Mädchen vom koedukativen Sport- oder Sexualkundeunterricht. All das fordert Bürger, Verwaltungen, Schulen und politische Entscheidungsträger heraus. Fragen drängen nach einer Antwort: Welchen Platz und welche Rolle will diese Gesellschaft künftig dem Islam zuweisen? Wie bewertet und reagiert sie auf Gruppen des politischen Islam? Wir befinden uns inmitten eines spannenden Klärungsprozesses.

Der Chor der Islamdebatte ist vielstimmig. Neben Alarmisten, die bereits den Untergang des Abendlands wittern, steht eine eher blauäugige Fraktion, die sich in der Vergangenheit jedem Versuch einer differenzierten Debatte verweigerte, die präzise zwischen den Absichten islamistischer Gruppen und den Interessen der Mehrheit der Kulturmuslime zu unterscheiden versuchte. Sie vertritt dagegen die Auffassung, man müsse nur lange genug mit den Beteiligten reden und dialogisieren, dann würden die Vorurteile der Deutschen verschwinden, und die Muslime und ihre Interessenvertretungen ihren Platz in der deutschen Gesellschaft finden. Allerdings legen die Vertreter des Ansatzes "Integration durch Dialog" viel zu selten Rechenschaft darüber ab, was für sie die Indikatoren einer gelungenen Integration sind. Soll sie auf Grundlage der universalistischen Werte, auf die sich diese Gesellschaft geeinigt hat, erfolgen, kann dies nur bedeuten: Pluralismus auf allen gesellschaftlichen Ebenen, die Trennung von Staat und Religion als Bestandteil der Moderne, die demokratische Zivilgesellschaft als rechtliche und institutionell abgesicherte Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre, Toleranz im Sinne der Moderne, die nicht die Duldung der Andersgläubigen meint, sondern die umfassenden Freiheiten der Andersdenkenden und Andersgläubigen.

Nimmt man diese Prinzipien zum Maßstab sieht es mit der Integration der islamischen Organisationen alles andere als gut aus. Nicht nur islamistische Gruppen haben mit der Anerkennung dieser Prinzipien Probleme, auch Organisationen wie der Zentralrat der Muslime (ZdM), der in seiner Anfang 2002 veröffentlichten Islamischen Charta meint: "Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten". Oder: "Es besteht kein Widerspruch zwischen der islamischen Lehre und dem Kernbestand der Menschenrechte". Was heißt "grundsätzlich", was meint "Kernbestand der Menschenrechte"? Wo verlaufen Grenzen, die im Widerspruch zum hier gültigen Recht und auch zu hiesigen Werten stehen?

Ein Gefühl der Verunsicherung macht sich unter den Bürgern breit: Welche Kritik und welche Fragen an die Muslime sind berechtigt? Wo beginnt die Vorurteilsbildung und Islamphobie? Die Irritation wird verstärkt von der anhaltenden Klage muslimischer Verbandsfunktionäre, die hinter diesen Fragen nichts anderes als eine grundsätzliche Ablehnung des Islam seitens der christlich dominierten Mehrheitsgesellschaft sehen.

 Schnell wird in dieser erregten Debatte der Vorwurf der Islamfeindlichkeit und des Rassismus erhoben. Und tatsächlich ist noch lange nicht geklärt, wo die Grenze zwischen legitimer Kritik an der islamischen Religion beziehungsweise an deren irdische Vertreter und offener Feindseligkeit gegenüber dem Islam verläuft.

Feindbild Islam

Die Furcht und Phobie gegenüber der islamischen Welt, so ist seit Jahren immer wieder zu hören, schlummere in den tieferen Schichten des europäischen Unterbewusstseins. Sie reiche bis in die Zeit der Kreuzzüge, der Reconquista oder der Türken vor Wien zurück und könne jederzeit aktiviert werden. Der Westen brauche ein Feindbild, um sich seiner Identität zu versichern und geopolitische Interessen sowie militärische Aufrüstung zu legitimieren. Deshalb habe man nach dem Ende des Ost-West-Konflikts das alte Feindbild Kommunismus durch jenes des Islam ersetzt. Vorgetragen wird diese Argumentation vor allem von den Vertretern der großen islamischen Verbände, einem Teil der bundesdeutschen Linken und der Islam-Experten.

Empirisch lässt sich dieses Feindbild für die demokratische Öffentlichkeit allerdings nicht nachweisen. Ebenso wenig ist sie konstituierendes Moment des Westens. Darauf hatte der Publizist Siegfried Kohlhammer bereits 1996 in seinem klugen Essay "Die Freunde und die Feinde des Islam" hingewiesen. (2) Und Johannes Kandel, Leiter des Referats Berliner Akademiegespräche/ Interkultureller Dialog der Friedrich-Ebert-Stiftung, zieht nach Jahren des interreligiösen Dialogs die Bilanz: "Die Rede vom 'Feindbild' wird den vielfältigen Initiativen und Bemühungen von Behörden, NGOs, Kirchen, Wissenschaft und Medien, Muslimen die Integration zu erleichtern, nicht gerecht. Sie erscheint oft genug als Strategie, um sich in der Opferrolle zu bespiegeln und von eigenen Defiziten abzulenken" (3).

Anstatt nach der Kriegserklärung vom 11. September in antiislamische Hysterie zu verfallen, entschieden sich die Deutschen mehrheitlich für Neugier auf das "Unbekannte". Der "Tag der offenen Moschee" 2001, der wie jedes Jahr am 3. Oktober, also nur wenige Tage nach den Terroranschlägen, stattgefunden hatte, war so gut besucht wie nie zuvor. Zigtausende strömten in die Moscheen, um mit ihren muslimischen Nachbarn das Gespräch zu suchen. Und über Monate waren der Koran und Bücher, die über den Islam informieren, stark nachgefragt. Von Feindseligkeit zeugt dies nicht, eher von dem Wunsch auch in Zukunft nach Möglichkeiten des friedlichen Miteinanders zu suchen.

In keinem westeuropäischen Land wurden nach dem 11. September weniger antiislamische Übergriffe registriert als in Deutschland. Und anders als die Synagogen und jüdischen Einrichtungen brauchen Moscheen und muslimische Zentren bis heute glücklicherweise keinen gesonderten Polizeischutz.

Die Deutschen sind weniger islamfeindlich als der Rest Europas! Es fühlt sich, noch ein wenig merkwürdig an, einen solchen Satz niederzuschreiben. Schließlich können sie bekanntlich auch ganz anders. In den frühen 90er Jahren reagierte Deutschland - mit Ausnahme des ehemaligen Jugoslawien - von allen europäischen Ländern am gewalttätigsten auf die Folgen des Untergangs des sozialistischen Blocks. Die Bilanz der letzten 15 Jahre: mehr als 100 Tote rassistischer Gewalt und mehr als 1500 Sprengstoff- und Brandanschläge.

Warum reagierten die Bürger nach dem 11. September so anders als nach1989? Warum halten sie sich in der Islamkritik so zurück? Haben sie Angst sich offen zu äußern? Wir wissen es nicht, da es an entsprechenden Untersuchungen fehlt. Wenn auch noch eine letztendliche Antwort aussteht, lässt sich schon heute beschreiben, wie sich das gesellschaftliche Klima in den letzten Jahren verändert hat. Im Gegensatz zu den frühen 90er Jahren war Deutschland gut auf die Herausforderung des 11. Septembers vorbereitet, da inzwischen stabile Fundamente einer Zivilgesellschaft gelegt waren.

 Mit dem Regierungswechsel 1998 begann ein moderater migrationspolitischer Diskurs und es gab im Sommer 2000 den von den Medien lebhaft unterstützten "Aufstand der Anständigen". In der Folge entstanden eine Fülle staatlich alimentierter Initiativen und Projekte gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Dies alles zusammen erzeugte in Deutschland ein bislang unbekanntes zivilgesellschaftliches Klima, das nach 9/11 die allseits befürchtete antiislamischen Ressentiments unter Kontrolle hielt. Als segensreich hat sich vor allem die Einbindung der Boulevardpresse in den neuen zivilgesellschaftlichen Konsens erwiesen. So formulierte „Bild" (16.9.2001), worauf sich die große Mehrheit der Bundesbürger offensichtlich bis heute einigen kann: "Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist ein Kampf der Kulturen. Das Allerletzte sind Mit-Christen, die nun zum Feldzug gegen den Islam blasen und den weltweiten Schock nutzen, um auf den Flammen des Infernos ihr heuchlerisches Süppchen zu kochen" .

Kulturrelativismus und das System der Einschüchterung

Die Behauptung, Deutschland und seine Bürger pflegten ein "Feindbild" Islam ist ein ideologisches Konstrukt, das in erster Linie den Interessen islamistischer Verbände zuarbeitet. Denn ist der Konsens erst einmal hergestellt, die Islamfeindlichkeit sei das eigentlich dringliche Problem, dann stellen sich andere, unbequeme Fragen zum Beispiel nach der demokratischen Struktur muslimischer Verbände, deren Verhältnis zum Grundgesetz und zu der universellen Gültigkeit von Menschenrechten erst gar nicht. Tatsächlich bestimmen islamistische Gruppen seit Jahren die Agenda und damit, was in Deutschland im Kontext mit dem Thema Islam diskutiert wird und was nicht. So beklagt Johannes Kandel, im interreligiösen Dialog gäbe es eine ganze Reihe von Themen, die unerledigt blieben: Menschenrechte, Religionsfreiheit, die Trennung von Staat und Religion, Frauen, koranische Hermeneutik und eben die These vom "Feindbild Islam" (4).

Wie fruchtbar kann aber ein Dialog sein, der mit Kritik spart und mit masochistischer Selbstbezichtigung beginnt? Im Laufe der Jahre hat sich in der Bundesrepublik im "Dialog mit dem Islam" ein bedenklicher Kulturrelativismus entwickelt. In der Folge hat die Berichterstattung über den Islam und das muslimische Leben in Deutschland ihre eigenen Regeln entwickelt. Solange sie sich darauf beschränkt, die Toleranz des Islam an und für sich oder die Defizite in der Politik der Anerkennung des Islam zu beschreiben oder über Themen der muslimischen Alltagspraxis zu berichten, gibt es keine Probleme.

Schlagartig erhöht sich der Druck auf Journalisten, wenn sie über Aktivitäten von Organisationen des politischen Islam berichten. Mal sind es Telefonanrufe zu Hause, bei denen Funktionäre höflich aber bestimmt auf die angeblich fehlerhafte und islamfeindliche Berichterstattung hinweisen. Mal sind es Versuche, mit hanebüchenen Vorwürfen Gegendarstellungen zu erwirken. Oder muslimische Funktionäre suchen Redaktionen persönlich auf, um eine "islamfreundliche" Berichterstattung zu erzwingen. Handfester sind die Reaktionen gegenüber muslimischen Journalisten. Da wird schnell der Zutritt zu öffentlichen Veranstaltungen verwehrt oder in hunderten von Telefonaten, SMS-Mitteilungen und E-Mails gedroht. Vereinzelt kommt es zur Androhung körperlicher Gewalt und zu körperlichen Attacken.

Das Bemühen, jeden Anflug von Islamfeindlichkeit zu vermeiden, in Verbindung mit genanntem Kulturrelativismus hat in der Bundesrepublik zu einer fatalen Entwicklung geführt. Nicht die Verteidigung der Aufklärung und der Pressefreiheit steht ganz oben auf der Agenda, sondern folgende Haltung gewinnt an Bedeutung: Wer die religiösen Gefühle der Muslime verletzt und sie herausfordert, ist selbst Schuld, wenn er sich deren Zorn zuzieht. Die Folge: Journalisten, die den Furor von Radikalgläubigen auf sich ziehen, stehen alleine da. Mit einer breiten Unterstützung sollten sie nicht rechnen.

So fehlte nahezu jegliche öffentliche Anteilnahme oder gar Empörung als ein "Spiegel"-Redakteur 1999/2000 über Monate von fanatisierten Gläubigen beschimpft und sogar mit dem Tode bedroht wurde. Das Magazin hatte gegen das koranische Bilderverbot verstoßen und ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert abgedruckt, das den Propheten Mohammed zeigte. Viel Verständnis für die aufgebrachten Reaktionen zeigte dagegen der Vorsitzende des Deutschen Dachverbands Zentralrat der Muslime, Nadeem Elyas, in einem Interview: "Wir erwarten in einer multikulturellen Gesellschaft, dass die Nichtmuslime wissen, was die Gefühle der Muslime verletzt und dass sie diese respektieren" (5).

Selbstredend sind Boykottaufrufe, E-Mail-Aktionen und Ähnliches legitime Formen des Protests, solange dabei auf physische Gewalt oder deren Androhung verzichtet wird. Nachdenklich stimmt allerdings, wenn selbst aufgeklärte Zeitgenossen meinen, in einer interkulturellen Gesellschaft sei künftig auf solch säkulare Provokation zu verzichten. Bezeichnenderweise würden sich dieselben Personen eine vergleichbare Einmischung verbitten, wenn christliche Kreise sich anmaßten, zum Beispiel Spielregeln der satirischen Berichterstattung zu definieren.

Die Einzelfälle haben sich zu einem System der Einschüchterung verdichtet. Bundesweit versuchen Islamisten durch organisierten Protest, Einfluss auf unliebsame Berichterstattung zu nehmen. So gelang es ihnen bereits, die Ausstrahlung kritischer Fernsehsendungen zu verhindern. Und Journalisten scheuen inzwischen häufiger als in der Vergangenheit vor Recherchen im islamistischen Milieu zurück. Sie fürchten die drohenden Folgen, die von Psychoterror bis hin zu langwierigen Rechtsstreitigkeiten reichen können. So müsse sich zum Beispiel jeder, der sich mit Milli Görüs befasse und mit Personen oder Organisationen, die damit in Zusammenhang gebracht werden, mit einer Flut von Unterlassungsklagen und auch Klagen rechnen, so der Fernsehjournalist Rainer Fromm. "Vor allem für freie Autoren stellt sich die Frage, ob sie diesen Zeitaufwand sich leisten wollen und ob sie sich das finanzielle Risiko leisten können" (6).

Ängstlichkeit und Zurückhaltung hat inzwischen auch den Wissenschaftsbereich erfasst. So zieht es der Autor der historisch-philologischen Studie "Die syro-aramäische Lesart des Koran" aus Angst vor Repressalien vor, sein Werk unter dem Pseudonym Christoph Luxenberg zu publizieren. Er diskutiert darin die Frage, ob der Koran wirklich ganz auf den Propheten Mohammed zurückzuführen ist, und zeigt das Fortwirken christlich-jüdischer Tradition im Offenbarungstext der Muslime auf. Diese Form des Selbstschutzes wirft ein bezeichnendes Licht auf den Stand des allseits gepriesenen Dialogs.

Gefährliche Tabus

Das öffentliche Desinteresse verlangt nach einer Erklärung. Ganz offensichtlich herrscht in Deutschland bis heute die Auffassung vor, der Islamismus sei kein Problem dieser Gesellschaft, sondern eine Herausforderung der sich die Anderen, Länder wie Algerien, Ägypten, die Türkei, Tunesien, die USA, Frankreich oder Russland, zu stellen haben. Ignoriert wird dabei, dass die Bundesrepublik seit Jahren Operationsbasis militanter Islamisten ist. Unter anderem hielten sich bekanntlich eine Reihe der Attentäter des 11. September in Deutschland auf und konnten sich bei ihren Aktivitäten relativ sicher, da ungestört, fühlen. Übersehen wird nachhaltig, dass der Islamismus auch hierzulande ein dem Rechtsextremismus vergleichbares antidemokratisches Potential (7) darstellt, das in der Lage ist, die Grundlagen der offenen Zivilgesellschaft zu erschüttern.

Das Ausmaß der Defizite der Wahrnehmung und des Problembewusstseins verdeutlicht ein kleiner Exkurs zum Rechtsextremismus und den Umgang mit dieser Herausforderung. Denn am Beispiel Rechtsextremismus hat die bundesdeutsche Gesellschaft ihre Lernfähigkeit unter Beweis gestellt.

Lange Jahre hatte die politische Mitte die Mobilisierungsfähigkeit der extremen Rechten unterschätzt und diese zum Beispiel durch den Anti-Asyldiskurs der 80er und der frühen 90er Jahre sogar beflügelt. Erst als rechtsextreme Parteien sensationelle Wahlerfolge feierten und die rassistisch motivierte Gewalt Anfang der 90er Jahre eskalierte, wurden sich viele bewusst, dass es einen Zusammenhang zwischen Diskurs der politischen Mitte, dem Fehlen einer aktiven Integrationspolitik und den Gewalttaten des rechten Milieus geben könnte. In der Folge entstanden zahlreiche Initiativen und Programme, um den Einfluss der extremen Rechten zurückzudrängen. Auch das hat die bundesdeutsche Gesellschaft inzwischen gelernt: Auf die ideologischen Führer rechtsterroristischer Kameradschaften muss anders reagiert werden als auf erlebnishungrige rechtsgerichtete Jugendliche, für die der Flirt mit dem Rassismus eine vorübergehende Phase in ihrem Leben sein kann. Hilft bei den einen möglicherweise nur staatliche Repression oder gar ein Organisationsverbot, können bei den anderen sozialpädagogische Maßnahmen erfolgversprechender sein. Und während die militant antisemitische NPD in der öffentlichen Debatte zu ächten und zu isolieren ist, lohnt es sich durchaus, sich mit dem gewaltfreien Rechtspopulismus der Schill-Partei auseinander zu setzen und zu sehen, welches gesellschaftliche Unbehagen sich hinter deren Popularität verbirgt.

Auch wenn Rechtsextremismus und Islamismus nicht gleichgesetzt werden können, da die einen ihre Ungleichheitsideologien völkisch, die anderen hingegen religiös begründen, die einen sich auf das Blut, die anderen auf den Glauben berufen, gibt es Parallelen in der Ablehnung universeller Werte: Beides sind totalitäre Ideologien. Umso verwunderlicher ist es, dass bei den Reaktionen auf sie unterschiedliche Standards gelten. Denn anders als bei der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus hat sich die Gesellschaft bei der Beschäftigung mit islamistischen Organisationen, religiösem Fundamentalismus und den Funktionären noch auf keine gemeinsamen Grundlagen einigen können.

Anders als beim Rechtsextremismus wird bei Gruppen des politischen Islam seit Jahren der Diskurs mit den Verbandsfunktionären gesucht, die Basis hingegen weitgehend ignoriert. Selbst die Forderung, ein Dialog mit muslimischen Gruppen habe auf Grundlage der freiheitlich-demokratischen Grundlage zu erfolgen, wird von Islamexperten wie dem Ethnologen Werner Schiffauer als Zumutung empfunden. "Ihnen werden Bekenntnisse zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung abverlangt. Ihnen wird vorgeworfen sich nicht deutlich von problematischen Positionen abzusetzen, die im Namen des Islam artikuliert werden", klagt Schiffauer und zieht die Schlussfolgerung: "Der Rechtfertigungsdruck, vor dem islamische Gemeinden sich in Deutschland sehen, erschwert die Entstehung einer demokratischen Diskussionskultur. Er setzt Machtverhältnisse" (8). Rechtsextremistische und populistische Funktionäre dürften diese relativierende Haltung mit Interesse zur Kenntnis nehmen.

Das Fehlen von Standards im Dialog mit dem Islam ist Ergebnis der Tabus, die sich die Öffentlichkeit bei diesem Thema auferlegt. In der Vergangenheit wurden Religionswissenschaftler/innen, die über das schillernde Universum des politischen Islam aufklären wollten, in den Debatten marginalisiert. Bereits das öffentlich formulierte Erkenntnisinteresse geriet in den Verdacht, Islamfeindlichkeit zu befördern. Und Versuche, die Instrumentarien der Rechtsextremismusforschung auf das Untersuchungsfeld Islamismus anzuwenden, wurden jahrelang bekämpft. So bezeichnet Thomas Hartmann, Organisator des Islam-Dialogs vor allem im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung, solche Arbeiten, die sich mit der Organisationsstruktur von Milli Görüs auseinander setzen, als "organisationsfixiertes Verschwörungsszenario", das die Integration der Muslime behindere (9). Und der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik bezeichnete das Erkenntnisinteresse, wer innerhalb des islamistischen Netzwerkes welche Rolle spielt, als "geheimdienstlichen Blick" (10).

Die Folgen der Versäumnisse sind dramatisch: Die Öffentlichkeit weiß heute zu wenig über Inhalte, Struktur, Organisation und Differenzen innerhalb des politischen Islam, seine Nähe, Distanz und Abgrenzung zum Terrorismus. Ein idealer Nährboden für Ängste und Vorurteile.

Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten ist heute nicht die Islamfeindlichkeit der Deutschen das eigentlich Beunruhigende, sondern die Haltung vieler so genannter Islam-Experten. Sie haben in der Vergangenheit den Islamismus und die latente Gewaltbereitschaft islamistischer Hardliner mit wenigen Ausnahmen ignoriert und verharmlost. So erwähnt Werner Schiffauer in seinem bereits zitierten Beitrag nicht den militanten Antisemitismus von Hizb-ut Tahrir, der auf die Vernichtung von Juden zielt, sondern spricht stattdessen euphemistisch von einem "antiisraelischen Diskurs". Islamexperten wie Schiffauer entgeht es offensichtlich, dass Angriffe auf Juden und Synagogen heute in Deutschland und Frankreich weniger von Rechtsextremisten als von Islamisten verübt werden.

Anstatt diese Herausforderung anzunehmen und über das Who is Who des politischen Islam in Deutschland aufzuklären, streuen Islamexperten der Öffentlichkeit auch nach dem 11. September 2001 weiterhin Sand in die Augen. So ist von ihnen immer wieder zu hören: Von den drei Millionen Muslimen in Deutschland seien nach Erkenntnissen des Bundesamts für Verfassungsschutz nur rund 3 000 den radikalen Islamisten zuzurechnen und weitere 40 000 seien in islamistischen Verbänden organisiert. Und das Publikum fragt sich: Ist das wenig? Die Antwort: Es ist viel, erschreckend viel. Zur Veranschaulichung: Gäbe es unter den Deutschen eine ähnliche Dichte antidemokratischer Positionen, hätten wir es nicht mit knapp 10 000 gewaltbereiten Rechtsextremisten zu tun, sondern mit 80 000; und nicht nur 40 000 Deutsche wären in Parteien wie DVU, Republikaner und NPD organisiert, sondern 1,2 Millionen Menschen.

Was würde in diesem Fall passieren? Richtig - eine viel intensivere Debatte über Ursachen und eine entschlossene Ächtung und Bekämpfung dieser antidemokratischen Milieus wären die Folge. Aber die bisherige Diskussions- und Informationspraxis der Islamwissenschaften, aber auch von Einrichtungen wie dem Orient-Institut in Hamburg, dem Zentrum für Türkeistudien in Essen, der katholischen und evangelischen Akademien oder der Heinrich-Böll-Stiftung geht in eine andere Richtung und relativiert die Herausforderung.

Warum wird trotz vieler Gemeinsamkeiten zwischen Rechtsextremismus und Islamismus auf diese Formen des politischen Extremismus in Deutschland bis heute so unterschiedlich reagiert? Folgende, vorläufige Erklärungen bieten sich an: Ein Teil der politischen Klasse glaubt die Ressource Islam im Allgemeinen und islamistische Gruppen im Besonderen als kommunitaristisches Netzwerk nutzen zu können, um den Folgen von Arbeitslosigkeit und dem sozialen Niedergang in den Einwanderervierteln entgegenzuwirken. Denn die Zeiten haben sich geändert. Während vor ein paar Jahren noch die Forderung nach politischer und sozialer Gleichstellung der Einwanderer bei gleichzeitiger Wahrung ihrer kulturellen Identität im Zentrum der Diskussionen stand, gewinnt das Religiöse an Bedeutung. So bietet sich in den französischen Vorstädten und den Einwanderervierteln in Großbritannien, den. Niederlanden und in Deutschland ein ähnliches Bild: Jugendliche aus bildungsfernen Familien mit muslimischem Hintergrund gehören zu den Verlierern. Staat und Gesellschaft können und wollen sie nicht mehr integrieren. Es fehlt an Arbeitsplätzen, an Geld für Jugendarbeit, an Mitteln für Fördermaßnahmen im schulischen und im beruflichen Bereich. Was als kostengünstige Variante bleibt, ist eine Politik der Anerkennung der religiösen Identität. Wer sonst nichts hat, dem bleibt zumindest die Ressource Islam. Und wenn weder Gewerkschaften noch öffentliche Bildungseinrichtungen oder säkulare Interessenvertretungen der Migranten Einfluss auf diese Jugendlichen haben, dann bleiben immer noch die Imame als Ansprechpartner. Ihnen traut der Staat offensichtlich den Einfluss auf die Ghettos zu, der den inneren Frieden sichern soll. Für dieses Ergebnis ist die Politik offensichtlich bereit, die religiöse Radikalisierung von Jugendlichen in Kauf zu nehmen.

In den Chefetagen der christlichen Kirchen sieht man diese Entwicklung mit Wohlwollen. Wenn soziale Fragen im Kontext der Islamdebatte in religiöse umdefiniert werden, wertet das die eigene gesellschaftliche Stellung wieder auf. Die Kirchen hoffen, mit den Islamisten gleichzuziehen, um dem Religiösen endlich wieder den Platz zukommen zu lassen, den es ihrer Meinung nach verdient.

Und bei einem Teil der Diskutierenden, die biografisch in der ehemaligen Linken verankert sind, bietet sich der Islam als antiimperialistische Projektionsfläche an. Nach dem Niedergang der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt scheinen islamische und islamistische Bewegungen die letzten zu sein, die der Vormachtstellung der USA und der Alternativlosigkeit des globalisierten Kapitalismus etwas Eigenes entgegensetzen.

Alles bislang Gesagte bedeutet allerdings nicht, dass die Deutschen Muslime begeistert in ihrer Mitte aufnehmen. Die zum Teil erbittert geführten Diskussionen um das Tragen von Kopftüchern an Schulen und den Bau von Moscheen (11) sind Ausdruck eines nicht zu verleugnenden Spannungsverhältnisses. Der Islam ist noch weit davon entfernt, ein selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft zu sein.

Die Forderung der Muslime auf Anerkennung ihrer Religion und ihrer verbrieften Rechte wie den Bau repräsentativer Moscheen, die Eröffnung konfessioneller Schulen und Wohlfahrtsverbände, das Erteilen islamischen Religionsunterrichts und vieles andere mehr sind legitim. Hier liegt noch vieles im Argen. Eine Bringschuld dieser Gesellschaft darf im Gegenzug allerdings nicht dazu führen, jede Diskussion über Gruppen zu unterbinden, die sich öffentlichen Verlautbarungen zwar zu den Grundsätzen dieser Republik bekennen, gleichzeitig aber Ideologien und eine Politik verfolgen, die schwer mit diesen zu vereinbaren sind.

 

1) Gilles Kepel, Rechte der Gläubigen im gottlosen Europa. Islamistische Aktivisten umwerben junge Muslime, in: "Neue Zürcher Zeitung", Januar 1996, www.nzz.ch/dossiers/islamismus/islam_kepel.html

2) Siegfried Kohlhammer, Die Freunde und die Feinde des Islam, Göttingen 1996.

3) Johannes Kandel, Lieber "blauäugig" als blind? Anmerkung zum "Dialog" mit dem Islam, in: Integrieren statt ignorieren, Broschüre zur Woche der ausländischen Mitbürger, Frankfurt a. M. 2003, S. 29.

4) Ebd., S.27.

5) Nadeem Elyas in: "Der Spiegel", 6/2000, S.102.

6) Heribert Seifert, Schleichende Auszehrung der Neugier. Deutsche Medien und der radikale Islamismus, in: "Neue Zürcher Zeitung" (NZZ), 16.5.2003. Die NZZ ist bislang die einzige deutschsprachige Zeitung, die das Problem in seiner ganzen Tragweite erkannt hat und in angemessener Ausführlichkeit darüber berichtet.

7) Ursula Birsl, Ersen Bucak und Can Zeyrek, Religiöser Fundamentalismus oder politischer Rechtsextremismus? Islamistische Organisationen und Aktivitäten in der Bundesrepublik, in: "Blätter", 6/2002, S.720-727.-D. Red.

8) Werner Schiffauer, Das Schweigen am Rande. Wer islamistische Gemeinden verbietet, verhindert offene Diskussionen unter den Diaspora-Muslimen - und damit letztlich ihre Integration in die Westliche Gesellschaft, in: "die tageszeitung" (taz), 30.1.2003, S. 12.

9) Thomas Hartmann, Beschwerter Dialog, in: taz, 29. 5.2000, S.12.

10) Micha Brumlik, Wehrhaftes Missverständnis, in: taz, 17.!18. 6.2000, S.12.

11) Vgl. Claus Leggewie, Angela Joost und Stefan Rech Nützliche Moscheekonflikte? Lackmustest praktische Religionsfreiheit, in: "Blätter", 7/2002, S. 812-821.-D. Red.

 

Erschienen zuerst in: Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2003

Eine ausführlichere Version des Textes erscheint im Dezember 2003 mit dem Titel "Die schwierige Balance zwischen Islamkritik und Islamphobie" in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände. Folge 2, edition suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003.