Das Zeitalter der
Biopolitik bedroht das Recht auf den biographischen Zufall
Das
biopolitische Zeitalter bedroht das Menschenrecht auf den
biographischen Zufall: Ein Gespräch mit Joschka Fischer über
Evolution und Revolution
Herr
Fischer, interessiert Sie eigentlich die Debatte um die
Lebenswissenschaften, um die Entschlüsselung des Genoms, das Erbgut
und das ungeborene Leben?
Ja. Das ist eine der wichtigsten Debatten, die wir derzeit führen.
Sie reicht allerdings weit über die Politik hinaus und betrifft im
Grunde genommen die tiefsten Schichten unserer Zivilisation. Es ist,
wenn man es in die christliche Terminologie überträgt, nichts
Geringeres als das Infragestellen der Schöpfung als eines
nichtmenschlichen, eines göttlichen Willensaktes. Und wenn man das in
eine weltliche Sprache überträgt, ist es die Infragestellung der
Kontingenz, des Zufalls der Entstehung der menschlichen Existenz. Und
das rührt ans Innerste unserer Kultur. Das ist ein Prozeß, der sich
aus der Autonomie der Wissenschaft ergibt. Er ist weder aufhaltbar
noch begrenzbar. Er wird die Fundamente, auf denen die Moderne steht,
zutiefst erschüttern. Ich glaube, daß dieser Prozeß sicher
politische Konsequenzen haben wird, aber eigentlich die Reichweite
politischen Handelns und politischen Denkens übersteigt. Es wird
damit beginnen, daß man Krankheiten meint bekämpfen zu können, es
wird damit weitergehen, daß man durch einen entsprechenden Eingriff
in den menschlichen Bauplan verhindert, daß diese Krankheiten überhaupt
entstehen können. Dann werden andere Eigenschaften in den Vordergrund
der Manipulation der menschlichen Keimbahn treten, und damit steht
dann die Fabrikation und nicht mehr die Kontingenz am Anfang
menschlicher Existenz. Ich sehe da übrigens auch einen Zusammenhang,
keinen direkten, aber einen kulturellen, zu dem, was wir jetzt mit der
BSE-Krise erleben. Das heißt: eine völlige Verdinglichung,
Versachlichung von Leben. Ein letztes: Ich war jüngst in Afrika, in
Ruanda. Und ich hatte dort die Chance, eine uns sehr nahe verwandte
Spezies, Berggorillas, in ihrer natürlichen Umwelt zu erleben, wobei
das alles schon Reservatscharakter hatte. Und als ich den ersten
Gorilla sah, da habe ich daran gedacht, mein Gott, wie kindisch, im
wahrsten Sinne des Wortes kindisch, sind wir modernen Menschen. Wir
ruinieren diese wunderbare, uns eng verwandte Spezies definitiv. Wer
weiß, wie lange es sie noch geben wird? Und verwenden zugleich eine
unglaubliche Energie, um künstlich irgend etwas herzustellen, was
nicht im entferntesten die Großartigkeit dieser Spezies erreichen
wird.
Die Frage ist doch, und das ist eine Frage an den Außenminister,
ob nicht dringend internationale Konventionen nötig sind. In manchen
Teilen der Welt wird bereits das Klonieren von Menschen angestrebt.
Ein führender russischer Molekularbiologe rief dem Westen zu: Kommt
zu uns, bei uns dürft ihr alles.
Ich habe in meiner letzten Rede vor der Vollversammlung der Vereinten
Nationen darauf hingewiesen, daß diese wissenschaftliche Revolution
nach einer international verbindlichen Konvention ruft. Das ist eine
globale Frage, zumal es sich hierbei ja um auch von der Hardware her
relativ bescheidene technologische Voraussetzungen handelt. Das ist
ein elementarer Unterschied zur Atomtechnologie. Dort müssen Sie
einen gewaltigen wissenschaftlich-industriellen Aufwand betreiben.
Dazu bedarf es sehr großer Investitionsleistungen, die sichtbar
werden, die international kontrollierbar sind. Aber bei der
Gentechnologie hat man es mit Boutiquen-Technologien zu tun. Der
meiste Know-how-Transfer findet im Kopf statt, und die technologischen
Voraussetzungen sind ganz einfach zu bekommen. Aus all diesen Gründen
brauchen wir eine internationale, eine globale Konvention. Einen völkerrechtlichen
Rahmen, der die Gentechnik sinnvoll fördert, die Freiheit der
Forschung und ihrer Erkenntnisse sichert und zugleich ein ethisches
Fundament definiert und den Schutz gegen Mißbrauch garantiert. Aber
man wird dabei schnell feststellen, daß die normativen Fragen dadurch
mitnichten gelöst sind. Spielen wir das Basteln am Menschen doch mal
durch: Was geschieht mit denen, bei denen die Bastelei keinen Erfolg
hat, wie definieren die sich? Sind das Menschen, sind es halbe
Menschen, kann man die dann einfach als mißlungene Exemplare
freundlich ins Jenseits befördern, oder haben sie Menschenrechte? Man
könnte auch weiter gehen und sagen: Wir werden auf eine Entwicklung
zulaufen, in der es eines Evolutionsschutzgesetzes bedarf, also die
Bewahrung der Artendiversität, auch unserer eigenen. Nichts, was
Gott, der Herr, geschaffen oder was die Evolution hervorgebracht hat,
gibt es einfach so. Jede Krankheit hat ihre Funktion. Das heißt
nicht, daß wir sie als Menschen nicht auch durch die Medizin überwinden
könnten, aber insgesamt gesehen gilt: Je tiefer wir in den
Evolutionsmechanismus eingreifen, desto weniger überschauen wir die
Konsequenzen. Die neue Qualität entsteht durch die Tiefe des
Eingriffs. Und es wird ja dadurch eine völlige
Zweck-Mittel-Verkehrung herbeigeführt. Wir Menschen sind nicht der
Zweck der Evolution, sondern ein Zufallsergebnis. Ein Eingriff in den
Evolutionsmechanismus, der unsere endliche Perspektive zur Grundlage
hat, bedeutet doch: Wir bauen die Utopie des immerwährenden
Individuums in den Bauplan der Evolution ein. Aber die Individuen sind
in der Evolution ja nur so etwas wie die Quanten in der
Quantenmechanik, Mittel zum Zweck, vorübergehende Erscheinungen. Und
diesen Mechanismus umzukehren, da liegt für mich die große
moralische Dimension und Gefahr der Aufhebung der Kontingenz der
menschlichen Existenz.
Das ist ein gut pantheistisches Weltbild. Aber die Religion lehrt:
Der Mensch ist die Krone der Schöpfung, wir sind der Höhepunkt der
Evolution und nicht etwas, was überwunden werden muß. Und es gibt
Moraltheologen, die sagen: Wir dürfen auch in die Keimbahn
eingreifen, denn aus der Schöpfung kann nichts Unnatürliches
hervorgehen.
Klar, der Natur ist ja auch egal, ob die Erde eine Wüste ist oder ob
sie begrünt ist, ob sie von einer dünnen Sauerstoffatmosphäre
umgeben oder ob sie tot ist. Der Natur ist das alles egal - es wird
eines Tages etwas anderes entstehen. Die Frage ist, ob es uns egal
sein kann. Und natürlich können wir. Aber dürfen wir? Und wenn ja,
was dürfen wir? Es ist doch die Frage nach der Kulturleistung, und
diese muß die Krone der Schöpfung selbst beantworten. Ich glaube
eben, daß wir dabei sind, eine Schwelle zu überschreiten. Wenn
dieser Übertritt nicht einhergeht mit einer großen moralischen
Kulturleistung, mit einer großen normativen Leistung, wird er
ziemlich desaströse Folgen haben. Nicht mehr und nicht weniger.
Glauben Sie nicht, daß Sie - auch international - mit Ihrer
Geschichte und Ihrem Herkommen hier eine Mission haben könnten?
Das glaube ich nicht. Ich bin der festen Überzeugung, daß dies
zuerst einmal nicht die Aufgabe der Politik ist; das hieße auch,
Politik zu überfordern. Das
ist die Aufgabe nun weiß Gott all derer, die für die Grundlagen
unserer Kultur Verantwortung tragen. Dazu gehört die Politik auch,
aber es ist nicht der wesentliche Teil. Die normative Debatte muß
erst mal von anderen geführt und angestoßen werden, bevor sie dann
in die Politik und schließlich in die Verrechtlichung überführt
werden kann. Nur: Sie muß geführt werden. Warum hat die späte
Moderne, bei der ja offensichtlich die
wissenschaftlich-instrumentellen Möglichkeiten ins Gigantische
gesteigert werden, ein solches Defizit an normativer Philosophie? Das
ist eine Frage, die kann ich nicht beantworten, ich stell's nur fest.
Bernd Ulrich schrieb unlängst im "Tagesspiegel", es sei
göttliche Ahnungslosigkeit, zu glauben, Sie interessierten sich
wirklich für Ökologie.
Ich habe in letzter Zeit ja damit zu tun, daß ich mich nachgerade
abschotten muß, um an mir selbst nicht zu zweifeln, weil ich ja täglich
auf allen Kanälen, in allen Journalen meine Biographie dargestellt
bekomme, mein Charakter beschrieben wird und jeweils jeder seine
eigene Interpretation da reinschreibt. Das würde mich ja dem Irrsinn
überantworten, wenn ich das alles ernst nehmen würde. Mich
interessiert die Sache. Mein Gott, Ökologie, das ist "Oikos":
das Haus, in dem wir leben, und seine Ordnung. Die Gentechnik ist
eigentlich keine ökologische Frage: Wir reden hier in Wirklichkeit
nicht von einer ökologischen Frage, sondern von technischen
Eingriffen, die weitgehende ökologische Konsequenzen haben können.
Mutter Natur - ich sage es nochmals -, die wird mit allem fertig; ob
wir damit fertig werden, das ist unsere Frage. Unsere Reichweite ist
begrenzt, unsere Perspektiven sind immer noch sehr begrenzt, auch wenn
wir alles tun, um unsere Lebenszeiten zu verlängern, und wir werden
an Situationen stoßen, wo die Menschen sich dann die Frage stellen müssen:
Wollen wir wirklich noch älter werden? Wann beginnt menschliches
Leben, und wann endet es? Wir geraten hier in Fragen, und wir geraten
hier in Entscheidungsdimensionen, von denen ich mir nicht sicher bin,
ob es wirklich ein Fortschritt ist, dahin zu kommen.
Forschung läßt sich aber nicht aufhalten.
Richtig. Ich bin überzeugter Anhänger der Wissenschaftsfreiheit. Die
Konsequenz wäre ein Zurück zur Unterdrückung wissenschaftlichen
Forschens, der wissenschaftlichen Neugierde. Der Prozeß der Neugierde
kann nur an sich selbst scheitern, aber er ist nicht unterdrückbar.
Sie sagen und schreiben: Wir stehen vor einem neuen Epochenbruch. Ich
frage mich, ob wir über nichts Geringeres diskutieren als über die
Verabschiedung des Homo sapiens. Was heißt: Der sich selbst
verfertigende Mensch wäre dann die nächste Stufe. Das ist kein
Epochenwechsel mehr, das wird ein viel tieferer Wandel. Das wird sich
schleichend an vielen einzelnen Punkten ereignen. Lesen Sie die Rede
des Bundespräsidenten vom 26. Januar. Wenn man sie weiterdenkt, stößt
man auf den Punkt: Was darf Wissenschaft, respektive wenn sie der
Meinung ist, sie muß etwas dürfen können, was braucht sie dazu an
moralisch-ethisch-kultureller Fundierung? Diese Frage muß
Wissenschaft beantworten, und dies wird man von ihr auch verlangen müssen.
Aber kann sie das allein? Sie muß es ja aus der Gesellschaft
heraus.
Na, die Gesellschaft ist erst mal ein Anonymum, es ist nicht die
Gesellschaft, das ist immer eine Flucht ins Ungefähre. Wissenschaft
findet in der westlichen Zivilisation vor allem an den Universitäten
statt. Die Universitas, wenn sie noch einen Sinn macht, wenn sie mehr
ist als ein Wissenschaftsagglomerat, ist hier gefragt. Es ist nichts,
was Wall Street zu beantworten hat oder die Frankfurter Börse. Es ist
auch die Frage an die Philosophie, an die Theologie, es ist eine
ganzheitliche Herausforderung, der sich die Wissenschaft als ganze
stellen muß.
Aber es gibt in unserer Gesellschaft, das sage ich dazu, kaum noch
Autoritäten, das heißt . . .
Das muß ja nicht schlecht sein. Man kann es auch so sagen: Wer da über
diese Schwelle will, der muß eine andere Dimension von Prüfungen
ablegen, der kann das nicht mit dem Führerschein fürs Dreirad, das
wir als Homo sapiens mitbringen, und dort weiterfahren wollen, sondern
der steigt um in, was die Evolution betrifft, ein Düsenzeitalter. Ob
wir zivilisatorisch dies bewältigen können? Wir verabschieden den
Zufall, die Kontingenz der Evolution. Unsere ganze Spezies ist das
Ergebnis von deren großem Würfelspiel. Und dieses Würfelspiel setzt
voraus, daß diese Baupläne in den einzelnen Individuen, aber auch in
den Spezies veränderlich sind, das heißt, daß es Mutationen gibt.
Und der moralische Respekt, den jeder einem behinderten Menschen
entgegenbringt, begründet sich auch darin, daß dieses Würfelspiel
die Grundlage für unsere gemeinsame Existenz als Menschen ist. Wenn
wir das alles ausschalten, bezahlen wir dafür einen Preis. Und dann
wird es nicht mehr die Kontingenz der Evolution sein, sondern dann
wird es vielleicht der Murks eines montags schlechtgelaunten
Bioingenieurs sein oder von irgend jemandem sonst, der sich da vertan
hat, man hat es zu spät gemerkt, es war nicht mehr reparabel. Will
man das, will man das wirklich? Welchen Preis werden wir bezahlen für
das Auslöschen von Erbkrankheiten? Was wird man dürfen? Rechtliche
Frage und ethische Frage. Was wird man wollen? Politische Frage und
auch rechtliche Frage, nämlich daraus folgt das, was man dürfen
wird. Und insofern, denke ich, wird es natürlich auch weitgehende
Konsequenzen haben, die zu internationalen Konventionen führen müssen.
Ich bin nachdrücklich dafür, an dem Punkt neige ich nun wirklich zu
einer eher konservativeren Gangart, hier eher auf der sicheren Seite
zu stehen als Bundesrepublik Deutschland.
Verblüfft es Sie nicht, daß eine relativ harmlose Sache wie die
Volkszählung zu riesigem aufrührerischem Aktivismus führte und
jetzt so wenig mobilisiert ist an gesellschaftlicher
Diskussionsenergie dort?
Ich glaube nicht, daß es so bleiben wird. Die Mobilisierung wird
zunehmen, in dem Moment, wo sich die Negativseiten der neuen
Technologien in den Vordergrund schieben. Ich bin mir sicher, daß es
dann entsprechende gesellschaftliche Gegenreaktionen geben wird. Was
wir an der Börse als Boom in der Biotechnologie und anderen
High-Tech-Bereichen erlebt haben, das war ein typisches gründerzeitliches
Phänomen. Nehmen Sie das Buch von Sebastian Haffner, dieses
wunderbare, großartige, zauberhafte Buch, das er 1939 geschrieben hat
und das nun wirklich für mich die Epistel deutscher Leitkultur ist -
das kann ich Herrn Merz nur empfehlen, auch und gerade, was Haffner
dort über Deutschland schreibt. Er zeigt dort ja, daß Deutschland überhaupt
nicht zum Nationalismus paßt und in keinem Land der Erde
Nationalismus solche verheerende Wirkung haben wird wie in
Deutschland, und Haffner begründet auch, warum. Das soll der Merz
sich alles mal hinter seine Ohren schreiben. Da also beschreibt
Haffner die damalige Gründerzeit, wo plötzlich ein Einundzwanzigjähriger
Bankdirektor wird - das hat sich schnell wieder gegeben, das gibt sich
jetzt auch wieder schnell -, das sind spekulative Gründerzeiten, das
renkt sich wieder ein, da machen Sie sich weniger Sorgen. Die Sache
selbst ist brisanter.
Ich will ja nur als Quasi-Marxist mal . . .
Bei Marx gibt es wunderbare Schilderungen der ersten großen
Finanzkrise, nämlich die sogenannte Tulpenzwiebelspekulation im
sechzehnten, siebzehnten Jahrhundert in Holland, in der Blüte des
holländischen Kapitalismus, wo plötzlich alle der Meinung waren, daß
Tulpenzwiebeln eine Werthaltigkeit hätten, die unglaublich wäre, und
gewaltige Vermögen in Tulpenzwiebeln gemacht und angelegt wurden, bis
irgendwann dann einer erkannte, daß eine Tulpenzwiebel eine
Tulpenzwiebel ist und eben nicht in Gold und Diamanten aufzuwiegen
war. Und diese Erkenntnis griff um sich, und es war ein Ende mit
dieser gewaltigen Spekulation. Und so ist es bei allen großen
Spekulationen.
Einer Ihrer Freunde erzählt, wie es einmal vor vielen, vielen
Jahren spät nachts an seiner Tür klopfte und Sie davorstanden und
erschöpft, aber triumphierend sagten: Ich habe jetzt den letzten Band
von Marx' "Kapital" zu Ende gelesen. Würden Sie heute
sagen, die Mühe hat sich gelohnt?
O ja. Marx als "Kirchenvater" ist mausetot. Aber Marx als
Sozialhistoriker und als Soziologen halte ich für unglaublich
aktuell.
Hat Sie das in Dialektik geschult?
Sicher. Und das hilft vor allem bei der Bestimmung deutscher Außenpolitik,
die ohne Dialektik schwer denkbar ist. Marx als Historiker und
Soziologe wird Bestand haben, wenn Sie seine moralisierenden
eschatologischen Teile wegnehmen, also daß allein aus der Tatsache
der Unterdrückung die Freiheit folgt, wenn Sie seine auch autoritäre
Vorstellung von Klassenkampf weglassen, nicht aber seine Geschichte
von Klassenkämpfen, seine historische Analyse und Methode, die sich
daran entwickelt, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt, das Verhältnis
von Produktivkräften und von Produktionsverhältnissen
gesellschaftliche Entwicklungen bestimmt, diese großartige Passage,
der erste Teil des Kommunistischen Manifests, der Apotheose der
Globalisierung damals und heute war und nicht umsonst von den
konservativen Zeitungen wie der NZZ und F.A.Z. nach dem Ende des
Kalten Krieges im Zeitalter der Frühphase der Globalisierung
wiederentdeckt wurde, die Darstellung der Entwicklung des
Kapitalismus, die ursprüngliche Akkumulation, das alles und vieles
mehr, ist aus meiner Sicht von bleibender Aktualität genauso wie Max
Weber.
Und Darwin?
Darwin kenne ich weniger gut. Mag sein.
Sie verteidigen die Zufälligkeit, die Kontingenz der Evolution
gegen die Planbarkeit. Das sind Parameter, die auffällig sind:
Verteidigen Sie nicht auch das zufällige Leben gegen die geplante
Karriere? Eine Biographie ist nicht von A bis Z durchgeplant, sondern
sie ist Evolution und kann durch zufällige Ereignisse überraschende
Wendungen nehmen. Evolution heißt: Ein Streetfighter wird Außenminister.
In Deutschland scheint das im Augenblick, wenn man an die
Achtundsechziger-Debatte denkt, nicht von allen geteilt zu werden.
Wenn's nur die Biographie wäre, würde ich sagen: okay. Aber wir
nehmen uns doch einen Teil unserer eigenen Geschichte, auch als
Demokratie. Und das ist eher bedenklich in einem Land, das nicht
gerade eine stark ausgeprägte historische Identität als bürgerliche
Demokratie hat. Wir gründen nicht auf einem revolutionären
Freiheitsakt wie viele andere Länder. Deshalb tun wir uns auch,
anders als unsere Nachbarn, mit der Gewaltfrage so schwer. Überall
dort, wo moderne Staatsräson, moderne Demokratie auf einem großen
Freiheitsakt, meistens gewaltsamen Freiheitsakt gründet, ist die
Frage der Gewalt fest verankert in der kollektiven Identität über
die Generationen hinweg: Was ist erlaubt, was ist nicht erlaubt? Und
das machte übrigens für mich immer auch den Unterschied zu einem
amerikanischen Konservativen wie Ronald Reagan oder zu Maggie Thatcher
aus, die beide fest verankert waren in der Tradition der
amerikanischen Revolution oder auch der britischen parlamentarischen
Tradition, oder zu einem deutschen Konservativen wie Alfred Dregger.
Dieselben Sätze sind dort anders, und dieselben Positionen, die ich
nicht geteilt habe, waren dennoch anders, nämlich letztendlich in
einem revolutionären Gründungsakt begründet.
In einem Aufstand . . .
In einem Freiheitsakt, in einem Freiheitskampf. Das sage ich, ohne
achtundsechzig verfremden, überhöhen zu wollen - jede Revolution
oder Revolte hat auch ihre Negativseiten, und das wird man bei allen
großen historischen Ereignissen oder auch kleineren historischen
Ereignissen sehen, es gibt den unbefleckten Freiheitskämpfer nur sehr
selten, und es gibt die unbefleckte Freiheitsrevolution nur sehr
selten. Und es gibt große Irrtümer, und es gibt auch die
Verantwortung dafür. Dazu muß man und auch ich stehen, und das darf
nicht mit der Gloriole weggedrückt werden und gesagt werden: Wo
gehobelt wird, da fallen Späne. Aber das ist in der aktuellen Debatte
alles nicht der Punkt, nur: Wir haben nicht so viele dieser
Traditionen, daß man achtundsechzig vergessen könnte. Und es ist
fast zu bedauern, daß die Debatte über achtundsechzig als einen Gründungsakt
- da war irgendwo ein Gründungsakt, sonst würden wir nicht immer
wieder darüber streiten - und so eng geführt wird. Ich halte es auch
für einen großen Irrtum, achtundsechzig und die folgenden Jahre zu
trennen. Sie sind zumindest biographisch, aber auch politisch nicht zu
trennen. Wenn man das alles versucht wegzudrücken, dann wird man am
Ende zum Schlemihl ohne Schatten. Die heute Fünfunddreißigjährigen
müssen sich fragen, ob sie eines Tages nicht wirklich ohne Schatten
sein werden und ob man das wollen soll, ein Mensch ohne Schatten oder
eine Demokratie ohne Schatten; denn wo Licht ist, fällt Schatten. Und
wenn dieser Schatten weg ist, wenn man den versucht wegzunehmen, dann
verliert man woanders. Mehr aber will ich jetzt nicht sagen.
Könnte es nicht sein, daß eine Partei wie die FDP das Potential
der gentechnischen Industrialisierung schneller erkennt als die Grünen?
Die Furcht habe ich nicht. Das wird meines Erachtens die
intellektuellen Kapazitäten dieser Partei überfordern. Ich sehe eher
das Problem, daß wir in eine sehr ungute Konfrontation geraten, daß
die Grünen sagen: Das wollen wir nicht, das wollen wir verhindern.
Und andere sagen: Da liegt das Glück der Arbeitsplätze von morgen.
Das wäre eine sehr reduzierte und zu schlichte Debatte, die uns nicht
weiterführen würde. Wir werden diese Zäsur nicht verhindern, wir
werden sie deshalb gestalten müssen. Hier geht es um wesentlich mehr
als um die Naivität des Glückversprechens der vielen Arbeitsplätze,
der ewigen Gesundheit oder was immer.
Das ist die letzte Ideologie: Gesundheit. Sie sind da ja sozusagen
Guru. Ihr Marathon-Buch war ein Bestseller.
Übertreiben Sie nicht, das ist nur Selbstbesinnung, aber keinerlei
Ideologie. Nochmals zurück zu BSE: Wenn man sich die Dinge näher
anschaut, und das wird Millionen unserer Bürgerinnen und Bürger, die
das am Fernsehschirm mitbekommen, auch so gehen: Es dreht einem den
Magen um. Es dreht einem schlicht den Magen um. Vielleicht sollten wir
weniger, dafür aber besser konsumieren - man muß nicht jeden Tag
Fleisch essen, die schmackhafte Hülsenfrüchteküche von früher läßt
sich ohne weiteres reaktivieren. Linsen-, Bohnen-, Erbsengerichte, man
kann auch auf den Mittelmeerraum zurückgreifen mit Kichererbsen und
ähnlichem mehr, sind ein hervorragender Proteinersatz, ohne daß man
deswegen gleich Vegetarier werden muß.
Das muß aber doch irgendwie kommuniziert werden und nicht mit der
Warnung, daß man Fleisch nur deshalb nicht essen soll, weil man davon
sterben kann.
Und das machen wir mit Renate Künast und der neuen
Verbraucherpolitik. Da haben wir jetzt einen großen Vertrauensbonus.
Ich persönlich habe diesen Schritt ja schon seit 1996 gemacht, ohne
da jetzt in eine neue Ideologie des Vegetariertums zu verfallen. Ich
hatte einfach aufgrund meiner Lebensum-stellung keine Lust mehr auf
Fleisch, aber ich habe mich dann auch intensiver mit Ernährung beschäftigt
und festgestellt: Die Menschen früher, durch Not bedingt, waren
weiser und haben teilweise exzellente Rezepte hervorgebracht. Es ist
ja nicht so, daß man deswegen weniger an Lebensqualität hätte, das
wäre ein echtes Argument, wenn man abwägen müßte zwischen
Lebensqualität und Askese. Ich plädiere nicht für Askese. Die Frage
ist: Wie kriegt man den immer noch sehr altsteinzeitlich verfaßten
Menschen und seine Triebstruktur, die auf Mangel ausgelegt ist - das
heißt, immer, wenn es Überfluß gibt, reagieren wir in der Regel
mit: "Mehr, mehr, mehr . . ." -, wie kriegt man das
kulturell hin, diese Transformation. Und das geht nicht in einem Jahr,
und das wird auch nicht in einer Legislaturperiode gehen. Die Politik
muß anstoßen, muß ziehen, muß treiben, muß drängen, aber das
gilt auch für die Öffentlichkeit, das gilt für die Konsumenten, die
Verbraucher, die Produzenten, den Handel.
Das, was Ökologie war, verändert sich. Wir brauchen eine neue
offene Debatte über die Schöpfung. Brauchen wir nicht eine
Redefinition der Grünen selbst? Ist die im Gange? Ist die möglich?
Oder bleiben Sie das Leittier, das durch pure Sympathiewerte die
Partei rettet?
Überfordern Sie das Maultier Politik nicht, und überfordern Sie auch
die verschiedenen Maultiere in der Herde namens Politik nicht, die
Parteien. Lassen Sie sich das von jemandem, dem Neugierde nicht fremd
ist, sagen: Parteien sind wie Maulesel, absolut belastbar, können
sich von Disteln oder auch nur den Illusionen von Disteln ernähren,
sind ansonsten aber nimmersatt, wenn sie echtes Futter bekommen können,
wie wir ja allzuoft auch erleben, sind für jede Hochgebirgsüberquerung
- und das bedeutet Politik in heutiger Zeit - tauglich, Fröste, Stürme
machen ihnen nichts aus, sie sind absolut schwindelfrei vor den Abgründen
der Macht, rennen allerdings hinter jeder Mohrrübe her, die man ihnen
hinhält. Nur sind sie unfruchtbar, sind nicht fortpflanzungsfähig im
Sinne wissenschaftlicher, kultureller Neugierde. Das müssen andere
machen. Ich möchte den Ball jetzt nicht zurückspielen. Ich würde
mich gerne daran beteiligen, aber immer in realistischer Sicht auch
der eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten. Es gibt ein merkwürdiges
Schweigen der Geisteswissenschaften und der Kultur in unserem Land.
Das ist eine fast schon beängstigende Ruhe. Das können wir uns als
großes europäisches Land auf Dauer nicht erlauben.
Woran liegt das?
Ich glaube, auch an einer gnadenlosen Unterschätzung der
Geisteswissenschaften in der Gegenwart.
Waren nicht die Grünen lange Zeit Kulturersatz? Identitätsersatz?
Avantgarde-Ersatz? Eine Partei, die mit einer Vision begonnen hat und
. . .
Wir waren die Partei, die machtpolitisch gebündelt hat, was von
achtundsechzig bis hin zur Friedensbewegung an Revolten und sozialen
Bewegungen jenseits des sehr engen Spektrums der alten
Bundesrepublik-West sich entwickelt hat. Von 1990 an kam dann die
Tradition der Bürgerbewegungen der DDR mit dem Bündnis 90 hinein.
Protestbewegungen West und Ost haben sich in unserer Partei gefunden.
All das haben wir umgesetzt in Programme, deren utopischer Überschuß
uns vorangetrieben hat. Die Grünen haben diese Phase ausgestritten.
Und jetzt müssen wir uns neu erfinden. Wir müssen zugleich auch
Tradition bilden, und als junge Partei sind wir Traditionsbildung
nicht gewöhnt. Nur nochmals: Die zentralen Diskurse, die zentralen
Themen der gesellschaftlichen Entwicklung übersteigen die Möglichkeit
einer Partei. Eine Partei tritt eher dann auf den Plan, wenn Kunst,
wenn Wissenschaft, wenn meinetwegen auch die Straße gesprochen hat,
wenn die Konflikte offenbar wurden, wenn die neuen Konsense gefunden
werden müssen, aber dazu muß erst mal der Dissens offengelegt
werden, der Status quo erschüttert sein, damit ein neuer Status quo -
und das ist die Aufgabe der Politik - gefunden werden kann. Sie müssen
da eher mit den Dreißigjährigen und Fünfunddreißigjährigen und Fünfundzwanzigjährigen
sprechen und nicht mit mir.
Eine letzte Frage nach politischer Kultur. Sie erleben eine
schlimme Zeit. Und Helmut Kohl, dem dieses Land sehr viel zu verdanken
hat, hat diese Zeit der Demontage ja auch erlebt. Haben Sie in den
letzten Wochen nicht auch manchmal gedacht, daß wir mit Biographien
und Lebensleistungen zu erbarmungslos umgehen. Bedauern Sie das nicht?
Nein. Für mich macht die Faszination der Demokratie ihr bürgerlich-revolutionärer
Charakter aus. Eigentlich etwas, was in Deutschland eher ungewöhnlich
ist. Und Politik: Ich meinte in den siebziger Jahren, da geht's um die
Letzten Dinge. Das war mein großer Irrtum, da geht's immer nur um die
vorletzten Dinge, auch manchmal ganz triviale Dinge. Die demokratische
Machtfrage wohnt in jedem Bürger. Jeder ficht das täglich aus. Jeder
will seine Interessen durchsetzen, sein Prestige wahren, sein
Einkommen verbessern, seine Position verbessern. Wenn achtzig
Millionen das wollen, dann ist da einiges los! Das strukturiert sich
durch Verfassung, Gesetze, Parteien, Öffentlichkeit, aber die
Antriebskraft - das ist der Stoff, aus dem Politik wird, die Energien
und Interessen von achtzig Millionen machen die deutsche Demokratie
aus. Dazu gibt es Öffentlichkeit, da sitzen Journalisten, die wollen
was werden, und haben ihren Jagdinstinkt. Mir ist das alles nicht
fremd. Das ist Teil der politischen Auseinandersetzung, und man muß
in der Politik vor allem einstecken können. Das gehört dazu. Es ist
sogar wichtiger, als austeilen zu können, und dennoch voranzukommen
und weiterzumachen. Verstehen Sie, Politik ist immer die Mischung aus
Menschlichem und einer politischen Frage, einer Sach- und Machtfrage.
Beides können Sie nicht voneinander trennen. Die Sachfrage, für sich
genommen, erstirbt in Langeweile. Die Verbindung mit Personen macht
die Faszination des Politischen in der Demokratie aus. Ansonsten geht
es ganz überwiegend menschlicher als unmenschlich zu. Ich mag keinen
Sonntagsbegriff von Politik, deswegen bin ich immer auch für ein
Parlament, in dem es fetzt, in dem es durchaus mal ungerecht zugehen
mag, in dem auch überzogen wird, in dem man sich - nicht im
Regelfall, aber gelegentlich - durchaus auch weh tun kann. Demokratie
eliminiert nicht die Kräfte, die zu Tragödien führen können,
sondern muß auch diese Kräfte zum Ausdruck bringen in ziviler Form,
durch Regeln gebändigt, in harten Auseinandersetzungen. Sonst lebt
Demokratie nicht. Und insofern: Das waren und sind harte Wochen für
mich. Aber das gehört dazu.
Das Gespräch führte Frank Schirrmacher.
"Ein
Eingriff in den Evolutionsmechanismus, der unsere endliche Perspektive
zur Grundlage hat, bedeutet doch: Wir bauen die Utopie des immerwährenden
Individuums in den Bauplan der Evolution ein." "Wenn man das
wegdrückt, dann wird man am Ende zum Schlemihl ohne Schatten. Die Fünfunddreißigjährigen
müssen sich fragen, ob man das wollen soll." "Für mich ist
die Faszination der Demokratie ihr bürgerlich-revolutionärer
Charakter. Die demokratische Machtfrage wohnt in jedem Bürger."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.02.2001, Nr. 41 / Seite 43
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