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"Dann gehen Sie doch nach drüben"

 

Stimmungen in der Adenauer-Republik und das allmählich wachsende Unbehagen einer Generation

Von Karl Grobe

"Sind Sie etwa Kommunist?" Diese polemische Frage fiel dem Bundestagsabgeordneten der Deutschen Partei an jenem Herbsttag anno 1954 in einem Bremer Gymnasium ein als Replik auf den Wunsch eines Primaners, doch bitte einzuschätzen, ob die Aufstellung bundesdeutschen Militärs nicht doch die Wiedervereinigung erschwere. Der junge Mann war das einzige bekennende Mitglied der Jungen Union in der Oberstufe. Schlagfertig war er auch und schoss die Gegenfrage ab: "Sie etwa immer noch Nazi?"

Ganz fair war weder die Frage noch die Gegenfrage. Der Schüler fing aufmunternde Blicke ein von den Jüngeren, neidische von denjenigen seiner Klassenkameraden, die ganz sicher links von ihm standen - und auch strafende, aus dem Kollegium der Lehrer. Frech darf man nicht sein, das war uns allen bedeutet worden; Kommunist höchstens dann, wenn man die Form wahrt. Die KPD war ja noch nicht verboten. Aber wer von uns, auch von uns Linken, hätte denn noch Kommunist sein wollen nach dem 17. Juni 1953, nach dem Arbeiterdemonstrationen auf der Berliner Stalinallee, die zum Volksaufstand geworden waren, von der einen der vier (ehemaligen) Besatzungsmächte niedergekämpft und von den anderen drei Mächten nicht unterstützt und nicht ermuntert worden waren? Deutschland war gespalten; das musste doch wieder anders werden; da musste man doch fragen dürfen nach den Auswirkungen von Wiederbewaffnung, Europäischer Verteidigungsmeinschaft, der deutschen Dichotomie. Aber die Frage allein stürzte den Fragenden zwischen die Stühle. Seine Replik erst recht.

Der Abgeordnete ging beleidigt ab. Und er hatte doch gehofft, künftige Wähler für seine rechts stehende Partei gewinnen zu können. Die DP war seit knapp vier Jahren mit 14,7 Prozent der Stimmen die Nummer zwei im kleinsten deutschen Bundesland, nach der SPD (39,1), vor der Bremer Demokratischen Volkspartei (der lokalen FDP, 11,8) und der CDU (9,1). Die Union zog dann im selben Herbst knapp an der DP vorbei. In Bonn, unter Konrad Adenauer, regierte die DP weiter mit. Ihre Wähler verlor sie bald darauf an die CDU.

Adenauer schien unbesiegbar, die "Kanzlerdemokratie" an seine Person gebunden. Wohl legten die Sozialdemokraten von Wahl zu Wahl zu, doch jahrzehntelang zu knapp, verglichen mit der Stimmenkonzentration auf die Unionsparteien. Ihr schlugen die Kanzlerdemokraten den Wahlplakat-Satz um die Ohren: "Alle Wege führen nach Moskau", auch das Adenauer-Wort: "Die janze SPD ist unterwehnert."

Herbert Wehner, der den Unionschristen damals als Linker galt, entwarf 1958 einen Deutschlandplan, die SPD hatte hatte diplomatische Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten und zu China gefordert - "dann geht doch gleich nach drüben!" Die deutsche Dichotomie verzweigte sich in eine westdeutsche.

"Geht doch nach drüben" - nun denn. Nach Neujahr 1959 diskutierten in WestBerlin Studenten über den Zusammenhang zwischen Wiedervereinigung und (Atom-)Rüstung, für Punkt eins, also gegen Punkt zwei. Sie gingen auch, da es noch keine Mauer durch die Spreestadt gab, zur Humboldt-Universität. Sie hörten dort, dass es eine Kontinuität zwischen dem Antikommunismus Hitlers und dem Adenauers gebe; und sie gaben zurück, die Reparationszahlungen der DDR an die Sowjetunion könnten ja wohl nur als Besatzungspolitik qualifiziert werden und nicht als deutscher Weg zum Sozialismus, wie man dort sage. Es gab erstaunlicherweise keinen Streit mit den Ost-Berliner Studenten. Wohl aber mit den Sprechern der SED. War ja nicht anders zu erwarten.

Unerwartet kam anderntags der Vorwurf eines heute vergessenen, damals in West-Berlin tonangebenden SPD-Funktionärs: "Da drüben sind Resolutionen vorbereitet worden", und "ihr seid drüben gewesen!". Die Studenten, die mit ihrem Kongress die noch nicht abgesagten Kampagnen der SPD gegen Wiederbewaffnung, gegen das Streben nach Nuklearwaffen ("Kampf dem Atomtod") und für die deutsche Einheit (Wehners Deutschlandplan) hatten unterstützen wollen, sahen sich von der SPD beargwöhnt. Die Kluft zwischen "der Partei" und "den Studenten" wurde deutlich erkennbar.

Bald beschuldigte der SPD-Bundestagsabgeordnete Karl Mommer die Mitglieder der Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), sie seien "Ulbrichts Trojanische Esel". Mommer argwöhnte auch schon mal öffentlich, manche Mitglieder der SPD zeigten Anflüge von Gemeinsamkeit mit Kommunisten, und wurde ebenso öffentlich von Parteichef Erich Ollenhauer zurückgepfiffen -, doch der Beifall, den er von konservativen Ideologievereinen wie "Rettet die Freiheit" bekam, wird ihm nicht sehr willkommen gewesen sein. Zumal der SPD-Vorstand die Mitgliedschaft in diesem Verein mit derjenigen in der Partei für unvereinbar erklärt hatte.

Eine Unvereinbarkeitserklärung traf 1961 auch den SDS. Der war nun nicht mehr nur die sozialdemokratische Organisation junger Akademiker, wie sie unter anderen Helmut Schmidt einst (wieder-) gegründet hatte; er "stand links von der Partei", ohne einheitlich zu sein, war gelegentlich in den Augen der pragmatisch gewordenen Älteren übermäßig theorielastig, diskussionsfroh bis zum Zerreißen und mit seinem Beharren auf Nichtaufrüstung und manchen Grundsätzen, von denen die Sozialdemokraten sich mit ihrem Godesberger Programm verabschiedet hatten, denn auch unbequem. Mit der Konkurrenzgründung, dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB), hatte die Partei später durchaus vergleichbare Probleme.

Die SPD wollte mitregieren, um "den Staat wirklich bis in die letztmöglichen Konsequenzen zu demokratisieren und für die politische Demokratie feste Fundamente durch die Verankerung der Demokratie im Wirtschaftlichen und Sozialen zu schaffen" (Wehner in Bad Godesberg). Es war Wehner, der nach dem Tod des nüchternen, vorsichtigen, als Redner strohtrockenen SPD-Vorsitzenden Erich Ollenhauer (14. Dezember 1963) die SPD dorthin trieb, wohin sie nach seiner Ansicht gehörte: in die Regierung.

Der Weg war umstritten wie die Methoden des "Zuchtmeisters der SPD", des Fraktionsvorsitzenden, der Parteidisziplin durch leise Überredung und - häufiger - bellende Beschimpfung, unduldsam gegen "Abweichler" und geduldig als Taktiker erzwang. Wehner war bis in die vierziger Jahre Kommunist, dann ("Glaubt einem Gebrannten!") sozusagen sozialdemokratisches Urgestein (das Kompliment machten ihm ausdrücklich, nach vielen Jahren der Polemik, auch Christdemokraten). Er wusste, wo die Grenzen seiner Möglichkeiten waren: In der Bundesrepublik noch der siebziger Jahre war er wegen seiner Biografie Hassobjekt der Rechten. Was nicht bedeutet, dass die eigene Partei ihn nur geliebt hätte. Und er wiederum liebte manche SPD-Zeitung nicht sehr, zum Beispiel die Wochenzeitung Vorwärts.

Zuchtmeister und Abweichler

 

Einige Redakteure des damals recht angesehenen Parteiblattes hatten ihren eigenen Ärger mit dem leitenden Personal. Der Magazin-Redakteur zum Beispiel, der nach der Wahlschlappe von 1965 in der vierteljährlichen illustrierten Beilage ein Bild mit dem Satz betitelte: "Herbert Wehner lässt sich blicken. Er schaut noch grimmiger drein als manchmal ohnehin schon." Wer so respektlos schreibt, der "ist dann kaum mehr zu halten".

Der Verfasser hatte allerdings einen Nerv getroffen. Die Meinungsforscher hatten bis zum Wahltag am 19. September den Spitzenkandidaten Willy Brandt im Glauben gelassen, er sei ganz nahe am Wahlerfolg und liefere sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Ludwig Erhards CDU. Sie wussten es da schon genauer. Die SPD errang mit 39,3 Prozent - plus 3,1 seit 1961 - den üblichen "Ollenhauer-Sieg". Die CDU/CSU, ohne Adenauer, stand bei 47,6. Das hatte am Wahlabend Brandt getroffen wie ein Blitz aus blauem Himmel.

Brandt stellte sich dann auch nicht als Erster der Presse. Da musste Wehner ran, grimmig selbstverständlich und so bellend wie gewohnt: "Wir - haben diese Wahl - verloren!" Er hatte sich geopfert, wieder mal, und wurde dafür noch per Bildtext von den eigenen Leuten verspottet. So sah er das wohl. Und dass jener andere Redakteur der parteieigenen Wochenzeitung immer wieder gegen den Vietnamkrieg der USA zu schreiben wagte, obwohl doch die SPD "die Wahl mit Amerika gewinnen" wollte - das war auch fast schon zu viel. Die verbalen Prügel bezog dann in der "Singestunde" bei Wehner jedes Mal der Chefredakteur. Der aber ermunterte den jungen Kollegen dann jedes Mal: "Schreiben Sie mal weiter so, aber sachlich."

Das Problem der SPD-Journalisten war das Problem der Partei, für die sie etwas bewirken wollten. Es hatte mit der selbst gewählten Rolle in der Bundesrepublik zu tun, mit der "Bonner Demokratie", mit der Integration oder - wie man damals sagte - "Einbeziehung" der traditionsreichen und einst grundsätzlich oppositionellen Arbeiterbewegung in einen neuen Staat. Den Staat verändern oder "staatstragend" handeln, also ihn akzeptieren, wie er war?

Die SPD hatte sich früh für die demokratische Mitwirkung entschieden. Sie hatte, gemeinsam mit den Gewerkschaften, ein Betriebsverfassungsgesetz erreicht, das freilich längst nicht alle Wünsche erfüllte; sie hatte die Tarifautonomie als wichtigsten Bestandteil dessen mit erkämpft, was dann Sozialpartnerschaft genannt wurde und doch nicht mehr war als vereinbartes Regelwerk, Löhne, Gehälter und Arbeitsbedingungen auszuhandeln; sie hatte, so die Kritik aus den eigenen Reihen, sich mit dem kapitalistischen System arrangiert unter der Voraussetzung, es sozial erträglicher zu gestalten, als es eine Republik zuvor gewesen war. Für diese Strategie erfanden Italiener später den Begriff compromesso storico; dies war der historische Kompromiss der Deutschen.

Das war nicht leicht. Die bürgerlichen Parteien - im Laufe der Jahre gingen sie allmählich in der Union auf, mit Ausnahme der Liberalen - schienen an der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit nicht gerade interessiert. Den Zunft-Historikern, die das Geschichtsverständnis der jungen Republik prägten, kamen die Forschungen des Hamburger Historikers Fritz Fischer über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs wie böse Nachrede vor: Fischer hatte 1961 nachgewiesen, dass das Kaiserreich keineswegs in den Krieg hineingeschliddert war, sondern ihn mit zu verantworten hatte. Die Zunft grenzte ihn aus: Ein "Nestbeschmutzer". Die Fischer-Kontroverse, der erste Historikerstreit der Bundesrepublik, führte aber zwangsläufig in die Diskussion über das, was man als restaurative Tendenzen wahrnahm: Waren die Kräfte, die die erste (Weimarer) Republik zerstört hatten, doch wieder aktiv? Hatte die (Bonner) Republik, wer immer das im einzelnen war, Lehren aus der nationalsozialistischen Diktatur gezogen?

Die Republik hatte jedenfalls ihren Stil gefunden. Nierentische, erste Motorisierung, Fresswelle, Edelfresswelle; das Erhardsche "Wir sind wieder wer", unter anderem Weltmeister im Fußball (1954) und im Exportieren. Das Fernsehen, ein einziges Programm in Schwarzweiß und noch auf wenige Abendstunden beschränkt, hatte "den Familienkreis zum Halbkreis vor der Mattscheibe" gemacht und setzte seine eigenen Unterhaltungsthemen auf die Tagesordnungen am Arbeitsplatz und auf dem Schulhof. Bild, ein Groschenblatt mit Unterhaltungswert, pfefferte die Gespräche mit scharfen, aber für die traditionelle Presse absolut belanglosen Schlagzeilen. Doch das Blatt begann auch Stimmung zu machen, meist im Namen neu gewonnener Bedeutung der Deutschen. Den Moskau-Botschafter Kroll wollte es per Schlagzeile in die Wüste schicken; er wollte Verständigung und nicht die Politik der Stärke. "Auferstanden aus Ruinen" lauteten die ersten Worte der DDR-Hymne, sie hätten das Lebensgefühl der Bundesrepublikaner aber ebenso exakt beschrieben. Michael Mansfeld (Bonn, Koblenzer Straße) hat das 1967 so dargestellt:

"Adenauer entsprach . .. genau den Vorstellungen der Mehrheit einer Bevölkerung, die des politischen Denkens entwöhnt war und die Veränderungen in dieser Welt noch nicht wahrgenommen hatte; auch zunächst nicht wahrnehmen konnte, weil es aufzuräumen galt, Gasleitungen repariert werden mussten, neue Betten im nächsten Schaufenster lockten und die Wurst beim Metzger Ziel des Tages war." Die Deutsche Zeitung kommentierte, die Arbeiterbewegung habe die rote Fahne durch die Rosshaarmatratze ersetzt.

Es gab freilich eine Minderheit, die sich nicht damit abfinden wollte, dass die "schwankenden Gestalten", die im alten Regime irgendwie mitgemacht hatten, sich den Zentren der Macht wieder näherten, und dies gar nicht unauffällig. Der Jurist Hans Globke war nach 1953 zehn Jahre lang Staatssekretär im Bundeskanzleramt - er war nicht nur bis 1945 Ministerialrat im Reichs-Innenministerium gewesen, sondern auch Mit-Kommentator der Nürnberger Rassengesetze. Ins Auswärtige Amt, das Adenauer bis 1955 selbst leitete, zog "die Wilhelmstraße" wieder ein, die - wie man sagte - unentbehrlichen Spezialisten aus der gerade zurückliegenden Geschichtsperiode. Die Bundeswehr aufzubauen wurden Berufs-Militärs herangezogen, die wenigstens zum Teil mit dem 20. Juli 1944, dem fehlgeschlagenen Attentat gegen den Diktator Hitler, verbunden waren. Der erste Bundespräsident, Theodor Heuss (1949-1959), frotzelte die ersten Rekruten zwar an: "Nun siegt mal schön", aber die Generation, zu der der anfangs erwähnte Abiturient gehörte, überzeugte er mit diesem zivilistischen Satz noch nicht.

Schwankende Gestalten

 

Diese Generation fand sich noch nicht mit der Spaltung Deutschlands ab. Sie verstand den Zusammenhang mit dem seit 1947 herrschenden Kalten Krieg; sie war dennoch enttäuscht, dass "der Westen" 1953 (nach dem 17. Juni) und 1956 (nach den Volksaufständen in Polen und Ungarn) nicht mehr als den interessierten Zuschauer abgegeben hatte. Sie war schockiert und enttäuscht, dass sowohl Adenauer als auch die Westalliierten keinen Anlass für einen Berlin-Besuch sahen, nachdem die DDR-Behörden am 13. August 1961 begannen, zuerst einen Drahtverhau durch Berlin zu ziehen und sodann West-Berlin mit einer Mauer umgaben. Das Bild des "Zonengrenzers", der mit umgehängtem Schießprügel über den Stacheldraht gen Westen sprang, wurde zum Symbol. Außerdem: "Den Zoffjets" (wie es bei Adenauer klang) und damit "Pankow" war schon seit dem 17. Juni 1953 vielleicht alles zuzutrauen; gegen die Absichten, die "der Zone" unterstellt wurden, stand die Entschlossenheit der westlichen Demokratien. Zum Bündnis mit ihnen, der Westintegration, bekannte sich mittlerweile auch die SPD. Aber schon der britisch-französische Krieg gegen Ägypten 1956 nach der Verstaatlichung des Suezkanals unter Gamal Abdel Nasser hatte gerade unter denjenigen, die sich politisch zu engagieren angefangen hatten, einige Zweifel gesät. Viele lehnten längst den französischen Kolonialkrieg in Algerien ab, der 1954 begonnen und 1958 die Dritte Republik in das autoritärere System des Charles de Gaulle gedrängt hatte; Henri Allegs Buch Die Folter kursierte und erzeugte eine ursprüngliche Solidarität mit Deserteuren aus jenem Krieg. War das schon Subversion?

War es Subversion, als der Spiegel Anfang Oktober 1962 das Nato-Manöver "Fallex 62" kritisch beleuchtete? Kanzler Adenauer sah hier einen "Abgrund von Landesverrat" klaffen. Das Hamburger Nachrichtenmagazin wurde zweieinhalb Wochen nach dem Erscheinen des Berichtes durchsucht und die sechs wichtigsten Personen in Haft genommen. Schließlich nahm die spanische Polizei auf deutsches Ersuchen den Redakteur Conrad Ahlers in Torremolinos fest. Bundesdeutsche Behörden in Zusammenarbeit mit der Polizei des Franco-Regimes - das war für viele einfach ungeheuerlich und gab der Spiegel-Affäre Hautgout. Vor dem Bundestag rechtfertigte Adenauer das mit dem Hinweis, von Spanien sei es nicht weit bis Tanger (damals noch internationale Zone), und "holen Sie mal einen aus Tanger raus!" Das machte die Sache nicht besser. Adenauer stürzte nicht über die Affäre. Aber Verteidigungsminister Franz Josef Strauß war für die FDP nicht mehr tragbar. Er kam 1966 in der Großen Koalition (CDU/CSU-SPD) wieder zu Ministerehren.

Bevor es dazu kam, hatten viele Sozialdemokraten Neuwahlen gefordert. Sie luden in die Ortsvereine Referenten ein, das Für und Wider zu erörtern. Am Tag der Entscheidung zogen aus dem Kölner Süden und der näheren Umgebung Hunderte an einem eisigen Novemberabend in Bonn vor "die Baracke", Neuwahlen zu fordern - nicht ahnend, dass alles längst entschieden war, und zwar genau anders.

Strauß wieder in der Regierung, gemeinsam mit Sozialdemokraten? Willy Brandt, den die Nazis ins Exil getrieben hatten, den die Unions-Rechten als vater- und vaterlandslosen Gesellen beschimpft hatten, Vizekanzler unter Kurt Kiesinger, einst Referatsleiter Allgemeine Propaganda im Auswärtigen Amt der Nazis? Wie sehr hatten die Leute, die Parteien sich geändert?

Die SPD war angekommen. So weit, dass ihr Kanzler, Willy Brandt, "mehr Demokratie wagen" konnte, war sie noch nicht. Die parlamentarische Opposition bestand nur mehr aus der kleinen Fraktion der FDP. Das war die Voraussetzung für den Auftritt der außerparlamentarischen Opposition. Die bewegte sich auf den Straßen, in Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze und Ostermärschen gegen das internationale Wettrüsten. Und wer da mitging, hörte oft genau die Frage, die am Anfang dieses Artikels steht. Sie kam nun von Mitgliedern aller Regierungsparteien, aber sie war so unberechtigt wie in jener Szene in der Oberschul-Aula im Jahre 1954. Fast immer jedenfalls. Es war ja kein Protest "für Ulbricht". Es war einer gegen den Muff. Und für die Demokratie.

FR vom 13.2.2001