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Elmar
Altvater Zukunft
durch Umdeutung der Geschichte* Wie sehr Traumata von 1968 auch ein Dritteljahrhundert
danach die Perspektive verzerren können, hat nicht nur der Streit im
Bundestag um einen Stein während einer Frankfurter Demonstration vor
gut 30 Jahren gezeigt. Der Wissenschaftsrat dokumentiert dies in
erstaunlicher und daher zum Kopfschütteln veranlassender Deutlichkeit
in seinem Gutachten über die Berliner Hochschulen aus dem Jahr 2000:
Am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin (OSI) ging es dem Wissenschaftsrat
zufolge bis Mitte der 60er Jahre aufwärts, und danach nur noch
bergab. Dass die Perspektive nach vorwärts wie durch ein Vexierglas
verbogen wird, ist dann nicht überraschend. Denn der Wissenschaftsrat
bietet als Modernisierung Strukturen an, die aus vor 68er Zeiten
bekannt sind. Im Jahre 2001, ein Dritteljahrhundert nach dem ominösen
Jahr 1968, versucht die CDU nochmals abzurechnen - zumal mit jenen
68ern, die zu Regierungsämtern gelangt sind. Es könnte noch als »Treppenwitz
der Geschichte« (Neues Deutschland, 11.2.01) verbucht werde, wenn Jürgen
Trittin sich »nach fast einem Vierteljahrhundert noch einmal wegen
des Buback-Nachrufs rechtfertigen muss«, obwohl er als Ex-KBler mit
dem Sponti-Text nie etwas zu tun hatte. Es wäre aber alles andere als
ein Treppenwitz, es wäre ein Skandal, wenn Joschka Fischer wegen der
politischen Stützung des verfassungswidrigen Angriffskriegs gegen
Jugoslawien die höchsten Beliebtheitsquoten einfährt und die volle
Zustimmung der CDU findet, aber wegen eines umstrittenen Steinwurfs
vor knapp dreißig Jahren den Hut nehmen müsste. Eine erste Abrechnung mit den 68ern folgte der Revolte in
den frühen 70ern sozusagen auf dem Fuße: Mit dem Hamburger Erlass
von 1972 wurde Berufsverbot für »Verfassungsfeinde« erlassen, und
das waren fast ausschließlich Leute, die in den Jahren um 1968 auf
Demonstrationen, Teachins oder durch ihre Veröffentlichungen auffällig
geworden sind. Dabei hatte die Regierung Willy Brandts 1969 versöhnend
angefangen und ein Amnestiegesetz erlassen, das
Demonstrationsstraftaten (Landfriedensbruch, Rädelsführerschaft,
Widerstand gegen die Staatsgewalt etc.) außer Verfolgung setzte. Doch
1972 kam der backlash und später wurden Anti-Terrorismusgesetze
erlassen, die die deutsche Demokratie fast gekippt hätten. Man sollte
die Literatur jener Jahre lesen, um sich einen Eindruck vom Ausmaß
der subjektiv empfundenen Repression zu machen. »Die
antikapitalistische Linke in der Bundesrepublik steht mit dem Rücken
zur Wand... Die Verhältnisse in der Bundesrepublik (lassen sich)
schon wieder mit dem Marxschen Diktum beschreiben .... Deutschland
habe von den Revolutionen der Nachbarländer immer nur die Reaktionen
mitgemacht, ansonsten reduziere sich der Einfluß der Revolutionen auf
Umwälzungen in der Theorie«. So schreibt Bernhard Blanke 1976 in der
PROKLA (23, S. 3). Die Zeitschrift, die es auch heute noch gibt, ist
selbst ein Produkt der 68er Bewegung und ihrer internen
Auseinandersetzungen. In der Öffentlichkeit wurden den zumeist intellektuellen
»Sympathisanten« Sympathie für die Terror-Szene und Nähe zum
Terrorismus unterstellt. Auch linke Theorie, an der seit 1968 intensiv
und verbissen gearbeitet wurde, avancierte selbst für scheinbar
liberale Autoren zu einem Feindbild, das »Freiheit und Kultur«
bedrohe - so der Politologe Kurt Sontheimer 1976. Dies alles, von den
Medien in die breiten Kreise der Bevölkerung vermittelt, trug dazu
bei, dass in der Bundesrepublik eine Art »repressiver Konsens«
entstanden ist, in dem die Dissidenten der Linken keinen Platz hatten.
Wer sich in den 70er Jahren kritisch zur BRD geäußert oder gar »Gewalt«
angewendet habe, hat sich außerhalb des » arco costituzionale«, des
Verfassungsbogens, wie dies so schön in Italien hieß und so umständlich
als »freiheitlich demokratische Grundordnung« hierzulande bezeichnet
worden ist, begeben. Wenn heute die Gewalt eines Steinewurfs im Zentrum der
demonstrativen Empörung steht, wird zweierlei vergessen: erstens die
Gewalt, die Demonstranten seitens der Staatsgewalt erfahren mussten.
Auch die 68er hatten ihre traumatischen Erfahrungen, und das waren der
Mord am Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 und die Schüsse auf
Rudi Dutschke zu Ostern 1968, von den vielen Polizeiübergriffen bei
Demonstrationen in Berlin und Frankfurt, in München und Köln ganz
abgesehen. Doch war in den 70er Jahren die Frage der Gewalt nicht
allein bedeutsam. Es ging zweitens auch um Theorie, die eine Vielzahl
von Gruppen und Grüppchen im Umfeld der 68er entwickelten, die in neu
gegründeten Zeitschriften kontrovers debattiert wurde, und die nicht
selten in Sackgassen mündete, aber doch auch erfrischend Neues und
manchmal auch Vergessenes zu Tage förderte. Der moralische Impuls,
der die aktiven Leute auf die Straße brachte, beflügelte auch die
Theoriearbeit. Die Empörung über die US-Bombardements in Vietnam führten
zur Rezeption der Imperialismus- und Dependenztheorie. Die Lage an den
Hochschulen brachte die »Kritik der Politischen Ökonomie des
Ausbildungssektors« hervor. Und die Geschlossenheit der politischen
Institutionen provozierten die Theorie von der Transformation der
Demokratie ebenso wie die »Staatsableitungsdebatte«. Die RAF war in der Linken immer isoliert, und selbst der
Verfasser des »Buback-Nachrufs« distanzierte sich vom Terrorismus.
Dennoch wurden alle jene als Sympathisanten des Terrorismus verdächtigt
und bezichtigt, die sich des offiziellen Sprachgebrauchs nicht
bedienen mochten. Der damalige rheinland-pfälzische (und heute thüringische)
Ministerpräsident Bernhard Vogel hielt das Sympathisanten-Verdikt
schon für alle jene bereit, die statt »Baader-Meinhof-Bande« »Baader-Meinhof-Gruppe«
sagten. Der Anpassungsdruck jener Jahre reichte bis in den
Sprachgebrauch, durch den man sich verdächtig machen konnte. Dass der niedersächsische Wissenschaftsminister Erhard
Pestel Ende September 1977 von den Hochschullehrern die Unterschrift
unter eine vorformulierte Treueerklärung gegenüber dem Staat und
eine Distanzierung von jenem Mescalero-Text verlangte, der heute -
fast 25 Jahre danach - wieder medienaktuell ist, charakterisiert die
damalige Situation: Entweder man kriecht bücklings in die
vordefinierten politischen Räume oder man wird ausgegrenzt. Weder das
eine noch das andere ist einfach, beide Optionen sind in jener Zeit
gewählt worden. Aufrechter Gang war schwierig. Nach den Morden von Köln
und der Entführung von Schleyer haben 177 Intellektuelle im Stile der
Selbstkritik und Selbstbezichtigung versprochen, in Zukunft an den
Hochschulen und anderswo alles zu tun, damit unter den Studenten keine
Sympathien für terroristische Gruppen entstehen können. Das
erinnerte fatal an die Ergebenheitsadressen aus stalinistischer Zeit
oder an die Atmosphäre unter McCarthy in den USA der frühen 50er
Jahre. Das war, wie der Sozialdemokrat Glotz meinte, kurz bevor er
Berliner Wissenschaftssenator wurde, eine »alberne« Geste. Doch auch die 41 HochschullehrerInnen, die den
inkriminierten Mescalero-Text mit der urdemokratischen Absicht
herausgaben, Urteilsfähigkeit durch Zugang zum Text zu ermöglichen,
lagen schief. Denn sie schätzten die Wirksamkeit des repressiven
Konsenses in der damaligen westdeutschen Gesellschaft, in den »bleiernen«
Jahren einer autoritär gewordenen Demokratie, falsch ein. Die
Institutionen der deutschen Demokratie waren gegenüber der 1968 aufblühenden
»neuen Linken« spätestens nach 1972 noch mehr abgeschottet als
schon in den Jahren zuvor. Das Verbot der KPD von 1956, die
Unvereinbarkeitserklärung der SPD von 1961 (also der Ausschluß der
Mitglieder des SDS und seiner Sympathisanten), die beinahe hermetische
Geschlossenheit der Parteien und dann auch der Gewerkschaften gegenüber
der Linken machte parlamentarische oder institutionelle Opposition in
den 60er und 70er Jahren schwierig. Die linke Opposition in
Deutschland war daher vor allem außerparlamentarisch. Die APO hat aus
der Not eine Tugend gemacht, auch theoretisch. Es ist kein Zufall,
dass sich in der reichen kritischen Literatur der 60er und 70er Jahre
viele Schriften zur sozialen Struktur der modernen Gesellschaft, zu
Fragen von Bewusstsein und Verhalten, zur Entwicklung der Hochschulen,
zur Ausbeutung und Unterdrückung der »Dritten Welt«, zu ökonomischen
Krisentendenzen etc. finden, aber nur wenige zur inneren Verfasstheit
des staatlichen und gesellschaftlichen Institutionensystems mit der
Absicht, Ansatzpunkte politischen Handelns aufzudecken. Die
Staatsapparate, wie Althusser das politische System nannte, wurden in
den Jahren nach 1968 nicht als Feld der hegemonialen
Auseinandersetzungen wahrgenommen. Erst Mitte der 70er Jahre änderte sich dies, und zwar im
Zuge der Debatte um den »Eurokommunismus«, von dessen Charme sogar
Sozialdemokraten in jener Zeit fasziniert waren. Eurokommunismus - das
sollte die theoretisch-strategische und politische Antwort auf eine
Reihe von Herausforderungen sein, mit denen die Linke nach dem
Auseinanderbrechen der 68er Bewegung in spontaneistische Gruppen, die
maoistischen Parteikarrikaturen, eine undogmatische Linke, die
sowjettreuen Traditionskommunisten, klandestine Terrorgruppen, Rückkehrer
in den sozialdemokratischen Schoß konfrontiert war. Das waren vor
allem: Das Ende der Vollbeschäftigung und die Herausbildung neuer
Formen der Arbeit jenseits des »Normalarbeitsverhältnisses«, die
damit einhergehenden Veränderungen der Geschlechterverhältnisse, das
Scheitern des »Keynes'schen« Paradigmas eines aktiven
Interventionsstaats und die »monetaristische Konterrevolution«, der
Zusammenbruch des Bretton Woods Systems und die Liberalisierung und
Deregulierung der globalen Finanzmärkte, die Verteuerung des
Brennstoffs der modernen Industriegesellschaft, des Erdöls, das
frustrierende Scheitern aller Versuche der Errichtung einer neuen
Weltwirtschaftsordnung, die ersten Anzeichen einer globalen
Umweltkrise... Für die politische Entwicklung in Europa und daher auch
in Westdeutschland waren in jener Zeit andere Ereignisse von noch größerer
Relevanz. Der Militärputsch in Chile, der dem
demokratisch‑sozialistischen Versuch der Unidad Popular unter
Salvador Allende ein blutiges Ende bereitete, war ein Warnzeichen der
Repression gegen die demokratische und sozialistische Linke, zumal in
Italien nicht nur linke, sondern auch rechte Terrorgruppen aktiv waren
und der Principe Borghese einen rechten Staatsstreich versucht hatte.
Autoritäre Tendenzen wirkten auch in Westdeutschland, personifiziert
in Franz Josef Strauß ‑die Reden von Kreuth und Sonthofen sind
Stichworte. Doch wäre dieser Geschichtsabschnitt missverstanden, wenn
nur die autoritären Tendenzen ins Blickfeld geraten würden. Denn
brachen nicht die faschistischen Regime in Griechenland, Spanien und
Portugal Mitte der 70er Jahre zusammen, um demokratischen Ordnungen
Platz zu machen? Wurden nicht die USA aus Vietnam regelrecht
hinausgeworfen? Haben sich nicht in Westdeutschland schon seit Beginn
der 70er Jahre »unterhalb« und »außerhalb« des Parteiensystems Bürgerbewegungen
entwickelt, die sich nur teilweise und dann zumeist
kritisch‑selbstkritisch auf 1968 bezogen? Haben nicht die
Frauenbewegung und die Kinderladenbewegung den antiautoritären Impuls
der 68er in den »bleiernen« 70er Jahren gerettet? Diese Bewegungen
waren sehr viel pragmatischer als es die 68er sein konnten, und sie
signalisierten, dass der repressive Konsens nicht total gewesen ist.
Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre formierten sich Aktivisten aus
diesen Bewegungen zur grünen Partei. Die außerparlamentarische Bewegung war im politischen
System angekommen, saß in den Parlamenten der Kommunen und Länder
und seit 1986 auch im Bundestag. Für die Herausforderungen hatte die
grüne Bewegung unter dem Triangel von basisdemokratisch, ökologisch,
sozial - dem das Bekenntnis zur Gewaltfreiheit und der Respekt vor dem
staatlichen Gewaltmonopol hinzugefügt wurden - so überzeugende
Konzepte anzubieten, dass die anderen Parteien sie, auf ihre
Programmatik und Klientel zugeschnitten, inzwischen übernommen haben.
Ähnliches gilt auch für einen Teil der Forderungen der
Frauenbewegung, die im Verlauf von 1968 entstand und sich dann
weitgehend autonom von den Zerfallsprodukten der Bewegungen in den
70er Jahren entwickelte. Die Wirkung von 1968 lässt sich am besten verstehen, wenn
man einen West-Ost-Vergleich anstellt. Im August 1968 bereiteten
sowjetische Panzer dem Prager Frühling ein Ende. Die Reformer aus der
Tschechoslowakei gingen ins äußere Exil oder in die innere
Emigration, wenn sie nicht seit Mitte der 70er Jahre in den Widerstand
gingen (Charta 77) und dafür nicht selten im Gefängnis büßen
mussten. In der DDR wurde zur gleichen Zeit Rudolf Bahro verhaftet.
Wolf Biermann wurde ausgebürgert. Viele hauten ab in den Westen,
viele wanderten in den Knast. Die Reformen, die im Westen den
Institutionen von den 68ern abgenötigt wurden (zum Teil auch, indem
sich die Bewegung selbst wandelte), blieben im Osten aus. Wie wenig
bereit und fähig die real-sozialistische Elite war, Reformimpulse
aufzugreifen zeigt sich auch 1981 in Polen, als der General Jaruselski
gegen Solidarnosc putschte. Neben vielen anderen Gründen war es der
Reformstau, war es die ausgeprägte Unfähigkeit zu der politischen
Strategie, die Antonio Gramsci »Transformismus« nannte, die 20 Jahre
später im Jahre 1989 den Kollaps des real existierenden Sozialismus
bewirkte. lm Westen hat sich durch 1968 die politische Kultur verändert.
Sie ist offener geworden. Diese größere Offenheit erwies sich als
ein Glück für die Gesellschaft, als eine Produktivkraft, weil die
etwas miefige Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre und die autoritäre
Demokratie der 70er Jahre mit den Herausforderungen der europäischen
Integration und der Globalisierung im letzten Viertel des 20.
Jahrhunderts leichter fertig werden konnte. So ist es denn ein Stück
Normalität, das in anderen Ländern eine längere Geschichte hat,
dass Linke, die die politischen Institutionen außerparlamentarisch
demonstrativ in den 60er und 70er Jahren bekämpften, sich nun
mittendrin im politischen System befinden, und einige aus der Kohorte
sogar ganz oben. Daraus können zwei Schlußfolgerungen gezogen werden,
eine eher skeptisch-dialektische mit Bob Dylan: »There is no success
but failure, and failure is no success at all...«. Die andere Schlußfolgerung
aber gibt zu Optimismus Anlass. Denn in der offenen, globalisierten
Welt sind auch die Protestbewegungen offener, grenzüberschreitend.
Die Geschichte der 68er Bewegungen kann als je nationale Geschichte
geschrieben werden, auch wenn die Revolte fast zeitgleich als französischer
Mai, als autunno caldo in Italien, als (blutig niedergeschlagener)
Protest auf dem Platz der vier Kulturen in Mexiko oder auf dem Campus
von Berkeley ausbrach. Die »peoples of Seattle« hingegen sind von
vornherein eine globale Bewegung, auch wenn die Auseinandersetzungen
jeweils »vor Ort« ausgetragen werden. * Beitrag auf der Veranstaltung "1968: Ein nicht
enden wollender Streit oder: wie durch Umdeutung der Geschichte die
Zukunft festgelegt werden soll" in der Freien Universität Berlin
am 15.2.2001. |