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Theoretische Aufgaben Imperialismus und veränderte gesellschaftliche Verhältnisse
Interview mit Detlev
Claussen iz3w: In
den siebziger Jahren haben Sie den antiimperialistischen Kampf des
vietnamesischen Volkes als sozialrevolutionären Kampf und als ein
Lehrstück für die Klassenkämpfe in den Metropolen beschrieben. Was
an dieser Einschätzung war richtig, was war problematisch? Detlev
Claussen: Ich denke, dass es richtig war, sich mit der konkreten
Realität dieser Länder zu beschäftigen und die Konstellation zu
sehen, die zu der Konfrontation in Vietnam geführt hat. Wichtig war
insbesondere der Impuls, der von den agrarrevolutionären Bewegungen
der Dritten Welt ausgegangen ist. Man muss allerdings die Differenz
zwischen den Kämpfen in den Metropolen und den antiimperialistischen
Kämpfen in der Dritten Welt sehen. Zum Beispiel hinsichtlich der
Rolle der Gewalt. Im Unterschied zu den Metropolen war für die
agrarrevolutionären Bewegungen Gewalt keine Frage der Entscheidung
oder Gesinnung. Sie war diesen Auseinandersetzungen inhärent. Deshalb
stellte sich dort die Frage nach Gewaltlosigkeit als politischem
Mittel überhaupt nicht. Problematisch
war meines Erachtens vor allem die Revolutionsrhetorik. Man hat
angenommen, dass die Revolutionen in der Dritten Welt ein revolutionäres
Potential in der Ersten Welt wecken könnten. Dieses revolutionäre
Potential würde ich heute als ein gesellschaftsveränderndes
Potential bezeichnen. Und auf dieses Veränderungspotential in der
Ersten Welt haben die Revolutionsbewegungen in der Dritten Welt
aufmerksam gemacht. Iz3w: Wie
kamen Sie zu der Einschätzung, dass es sich um einen sozialrevolutionären
Kampf handelt und warum haben Sie das als gemeinsamen Kampf aller
antiimperialistischen Kräfte bezeichnet? Sozialrevolutionär
bedeutet, dass es sich nicht nur um den bewaffneten Kampf kleiner
Minderheiten handelt, sondern dass dieser Kampf eine Veränderung der
Gesellschaftsstruktur beinhaltet. Diese Kämpfe haben nicht nur einen
begrenzten nationalen politischen Inhalt. Hierin liegt die Bedeutung
des Imperialismusbegriffs bei Lenin als politischem Begriff. Er hat
gesehen, dass der Imperialismus die sogenannten geschichtslosen Völker
auf den Plan rufen und mobilisieren wird. Iz3w: Wie
sehen Sie das Verhältnis von sozialrevolutionärem Anspruch und der
gleichzeitigen Konstitution als nationale Befreiungsbewegungen, die
mit Kategorien wie Volk und Nation argumentieren? Anders geht
das gar nicht. Ein Großteil der westlichen Linken hat nicht
ernstgenommen, dass Agrarrevolution und Nationenkonstitution seit der
französischen Revolution in einem ganz engen Zusammenhang stehen. Die
Agrarrevolutionen und die Entkolonisierung in der Dritten Welt
bedeuten Nationenkonstitution. Das lange bürgerliche 19. Jahrhundert
und das ,short century' (1914-1989) kann man als eine Epoche von
Revolutionen zusammenfassen, in der der Schwerpunkt von Europa
ausgewandert ist in die Nationen der Dritten Welt. Iz3w: Während
des Golfkrieges haben Sie die deutsche Friedensbewegung kritisiert und
darauf verwiesen, dass er mit dem Vietnamkrieg nicht vergleichbar sei. In Vietnam hat
es sich um eine soziale Revolution, um eine Agrarrevolution gehandelt.
Im Irak dagegen gab es überhaupt keinen sozialrevolutionären
Impetus. Die nationalistische Regierung des Irak hat sich durch die
Eroberung Kuwaits Minimachtträume erfüllt. Dahinter steckt eine völlig
andere Struktur. Die Friedensbewegung hat es versäumt, zwischen
legitimer und illegitimer Politik zu unterscheiden. Sie hat die
Verantwortung und Selbstständigkeit der Länder der Dritten Welt
nicht berücksichtigt. Nicht alles, was Dritte Welt ist, ist a priori
gut, und nicht alles, was erste Welt ist, ist a priori schlecht. Iz3w: Die
Friedensbewegung hat sich aber nicht auf die Seite von Hussein
geschlagen, sondern sie hat, wenn auch eher relativ hilflos, die USA
und die Alliierten kritisiert. Aber sie hat
die Aktivität, die von Hussein ausging, überhaupt nicht
ernstgenommen. Sie hat nicht unterschieden zwischen Vietnam und dem
Irak. Es gibt aber mehrere Akteure, nicht nur die USA. Iz3w: Auch
wenn die Aktivität von Hussein ausging, hat sich nicht im Golfkrieg
doch ein Strukturelement des Imperialismus gezeigt, das man in der
Analyse berücksichtigen müsste? Der alte
Begriff des Imperialismus erklärt in einer solchen Konstellation überhaupt
nichts. Das internationale politische Handeln folgt nicht einer
stringenten Interventionslogik, wie man das unterstellt hat. Die
Intervention der USA in Vietnam war zwar ein schwerer Fehler, aber sie
ist ebenso wenig aus der Struktur des Imperialismus logisch und
notwendig hervorgegangen wie die Intervention im Irak. Iz3w: Der
Imperialismusbegriff war immer ein Versuch, den Kapitalismus zu
beschreiben, um daraus eine Revolutionstheorie zu entwickeln. In dem
Moment aber, in dem das Feld des politischen Handelns die analytische
Ebene abgelöst hat, ist diese mehr und mehr verflacht. Exemplarisch für
dieses Dilemma ist Lenin, bei dem der Imperialismusbegriff nach der
Oktoberrevolution strategischen Zielen untergeordnet und in eine
politische Handlungsanweisung transformiert wurde. Das ist
richtig, doch zunächst einmal muss man sehen, dass in der alten
Imperialismusdiskussion, etwa bei Rosa Luxemburg, über die Beschäftigung
mit der Sache selbst die Bedeutung der nicht-kapitalistischen Räume
entdeckt wurde, dass man also den Weltzusammenhang ernstgenommen hat.
Das wurde durch die Oktoberrevolution angestoßen. Wie man in der
Kommunistischen Internationalen (Komintern) damit dann taktisch,
politisch und strategisch umgegangen ist, das war zum großen Teil
verheerend. Der
Imperialismusbegriff hatte seinen Sinn in der Tat im Zusammenhang von
Imperialismus und Kapitalismus und ist insofern verknüpft mit einer
sozialrevolutionären Perspektive. So versucht zum Beispiel Hilferding
einen gesellschaftlichen Strukturzusammenhang zu denken, der Aussagen
über die Zukunft erlaubt. Darin liegt sein kritisches Potential gegenüber
der bestehenden Realität. Iz3w: Doch
wie kam es zu der von Ihnen als verheerend bezeichneten Entwicklung,
weshalb , konnte die kritische Implikation des Imperialismusbegriffs
nicht praktisch wirksam gemacht werden? Der
Imperialismusbegriff, wie er in der Komintern gebraucht wurde, hatte
auch eine gesellschaftskritische Bedeutung, indem er mit dem Bezug auf
die unterdrückten Völker eine sozialrevolutionäre Perspektive
jenseits einer bloß proletarischen Revolution eröffnete. In der
Folgezeit hat der Imperialismusbegriff diese Implikation verloren und
ist zu einer Bezeichnung von außenpolitischen Konstellationen
geworden. Das hat beispielsweise dazu geführt, dass er in den dreißiger
Jahren überhaupt keine linke Exklusivität mehr besessen hat. So
haben die Nationalsozialisten durchaus mit dem Imperialismusbegriff
operiert, um damit die anglo-amerikanische Welt zu bezeichnen und zu
attackieren. Er hat so seine Trennschärfe verloren. Dass das nicht in
das Gedächtnis der Neuen Linken eingedrungen ist, kann und muss man
von heute aus kritisieren. Mit der
Wiederaufnahme des Imperialismusbegriffs in der Neuen Linken der
sechziger und siebziger Jahre, bedingt durch Revolutionen in der
Dritten Welt, wurde der Versuch unternommen, den
kapitalismuskritischen Kontext wieder herzustellen. Dies konnte nur
bedingt gelingen. Denn es wurde nicht wahrgenommen, dass das
gesellschaftsverändernde Potential in den westlichen Metropolen und
in der Zweiten Welt kein sozialrevolutionäres Potential war. Der
Imperialismusbegriff hatte zwar die alte Revolutionsrhetorik wieder
auf den Plan gerufen, und man glaubte an das anknüpfen zu können,
was einem als die gute, alte revolutionäre Zeit erschien. Aber der
Imperialismusbegriff war viel zu wenig eine analytische, viel zu sehr
eine polemisch-strategische Kategorie. Mit ihm konnte man die
gesellschaftliche Entwicklung der sechziger und siebziger Jahre nicht
wirklich beschreiben, sondern man hat sie eher verschleiert. Iz3w: Sie
haben den Imperialismusbegriff dahingehend kritisiert, dass er als
Strukturbegriff keinen Erklärungswert besitzt. Stellt sich das selbe
Problem nicht auch in Bezug auf die Begriffe Neoliberalismus und
Globalisierung, die spätestens seit 1989 an seine Stelle getreten
sind? Nach '89 ist
der Imperialismusbegriff tatsächlich mehr oder weniger
stillschweigend unter den Tisch gefallen. Darin drückt sich eine
gesellschaftliche Realität aus, kein theoretisches Versagen. Das neue
Stichwort Globalisierung bezeichnet durchaus etwas Reales, nämlich
den weltgesellschaftlichen Prozess der Vereinheitlichung. Den Mangel
sehe ich jedoch darin, dass dieser Veränderungsprozess nicht konkret
beschrieben werden kann, sondern nur sehr oberflächlich, sehr ungenau
und unbegrifflich. Das lässt
sich auch am Protest gegen den Neoliberalismus aufzeigen. Mit diesem
Begriff konnte durchaus fundamentalistisch mobilisiert werden; so zum
Beispiel in Seattle oder in Prag. Doch man hat dem gesellschaftlichen
Veränderungsprozess lediglich eine subjektive Verweigerungshaltung
entgegengestellt, eine Haltung, die diesem Prozess gegenüber relativ
gleichgültig blieb und zu einer ohnmächtigen Protestmarke verkam,
weil weder die Dimensionen der Veränderung erfasst, noch konkret
kritisiert wurden. Für mich
hingegen ist das Stichwort Globalisierung die Aufforderung zu einer
erneuten theoretischen Anstrengung, das wirklich Neue an der
internationalen gesellschaftlichen Situation zu analysieren und zu
begreifen. Man wird dafür zu neuen Kategorien kommen müssen. Iz3w: Wenn
es noch keine neuen Begriffe gibt, mit welchen Stichworten würden Sie
die neue Realität beschreiben? Wichtig ist,
dass man systematisch versucht, die Begriffe abzuklopfen und deren
Tauglichkeit oder Untauglichkeit am konkreten Material zu erproben. In
Aspekte der Alltagsreligion (siehe Autorenhinweis) versuche ich zu
zeigen, dass der traditionelle Ideologiebegriff der Kritischen Theorie
nicht mehr bruchlos weiterverwendet werden kann. Die veränderten
gesellschaftlichen Umstände machen es notwendig, dass man
beispielsweise eine Kategorie wie Alltagsreligion einführt, die mehr
Rücksicht auf Aspekte des Alltagsbewusstseins nimmt. Ein anderes
Beispiel wäre, dass man versucht, den Begriff der Gesellschaft neu zu
fassen: hier muss man einbeziehen, dass der alte Kapitalismusbegriff
eine Identität der bürgerlichen Gesellschaft über die Jahrzehnte
hinweg unterstellt. Wenn man die Konstitution der bürgerlichen
Gesellschaft im langen 19. Jahrhundert vergleicht mit der Gesellschaft
in der wir heute leben, wird man eher zu einer Differenzbeschreibung
als zur Feststellung von Identität kommen. Über diese
Differenzbeschreibung wird man möglicherweise zu neuen Begriffen
kommen. Iz3w: Könnten
Sie das, was an alten Begriffen abgelöst werde sollte, auch auf das
internationale Feld übertragen? Wir haben im
Grunde genommen keine genaue Beschreibung für die Gesellschaft, in
der wir leben. Wir hatten große Schwierigkeiten, die Gesellschaften,
die man Zweite Welt genannt hat, zu beschreiben. Das gilt auch für
die Gesellschaften, die sich im Gefolge der Dekolonisierung entwickelt
haben. Es wäre Unsinn zu sagen, da hätten sich bürgerliche
Gesellschaften entwickelt. Der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft
würde jeglichen Sinn verlieren, wenn man ihn hier anwenden würde.
Nehmen wir beispielsweise die chinesische Gesellschaft: sie ist weder
kapitalistisch, noch bürgerlich, noch realsozialistisch. In den
sechziger Jahren wurden, Begriffe wie Imperialismus als Schlagworte
verwandt, in denen alles klar zu sein schien. Dass dahinter aber
analytische Aufgaben stecken, haben die Wenigsten gesehen. Das gilt
auch für den Kapitalismus. Der Begriff kann nicht die Folie sein, mit
der man die ganze Welt beschreibt, er verliert dann jeglichen Sinn.
Kapitalismus kann nur bedeuten, dass eine allgemeine Struktur abstrakt
beschrieben wird, aber es bedarf analytischer Arbeit, das heißt einer
theoretischen Konkretion, was es bedeutet eine bestimmte
gesellschaftliche Formation vor Augen zu haben. Zweifellos ist ja der
französische Kapitalismus zu unterscheiden vom deutschen usw.
Deswegen muss man sich auch den konkreten Bedingungen im 19.
Jahrhundert zuwenden. Iz3w: Es
gehört zu der Grundeinsicht Kritischer Theorie, dass sie sich immer
den Veränderungen der Welt anzupassen hat. Ist denn der Begriff
Imperialismus heute noch ein kritischer Begriff, besitzt er überhaupt
noch einen Erklärungswert? Der Begriff
des Imperialismus hat analytisch keine Aussagekraft mehr. Man kann ihn
nur noch als einen historischen Begriff verwenden, der eine Wett der
Ungleichzeitigkeit beschreibt. Für die Welt zu Beginn des 20.
Jahrhunderts hat er eine, wenn auch problematische Berechtigung gehabt,
als Beschreibung der Ungleichzeitigkeit in den gesellschaftlichen
Entwicklungen. In einer Welt der Gleichzeitigkeit, wie ich die
Gegenwart oberflächlich charakterisieren würde, hat der
Imperialismusbegriff seinen Sinn verloren. Iz3w: Globalisierung
produziert aber nicht nur Gleichzeitigkeit und Vereinheitlichung,
sondern führt auch zu Fragmentierung und Ausschluss, sei es die
Abkoppelung Afrikas oder die soziale Polarisierung innerhalb der
einzelnen Länder. Ist es dann nicht problematisch, Globalisierung als
»Welt der Gleichzeitigkeit« zu charakterisieren? Ich
sage nicht, dass mit der Globalisierung eine Homogenität aller
gesellschaftlichen Bedingungen hergestellt wird. Das Problem besteht
vielmehr darin, dass eine Weltgleichzeitigkeit hergestellt ist, bei
ungleichen Bedingungen, die man konkret analysieren muss. Mit einer
Theorie der autozentrierten Entwicklung im Sinne einer Abkopplung kann
man das aber nicht analysieren. Gerade für die Gesellschaften, die am
stärksten von den Fragmentierungen betroffen sind, stellt die Welt
der Gleichzeitigkeit das größte Problem dar. Die
marktgesellschaftlichen bzw. kapitalistischen Strukturen sind eine
globale Erscheinung, hinter die man nicht mehr zurück kann. Bedeutend
aber ist, dass der Zusammenhang von Kapitalismus und bürgerlicher
Gesellschaft, der dem Begriff des Kapitalismus seinen konkreten Sinn
gegeben hat, entkoppelt ist. Und das stellt neue theoretische Aufgaben. Detlev
Claussen, bekannt vor
allem durch sein Buch Grenzen der Aufklärung. Die
gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, ist
Professor für Soziologie in Hannover und Mitherausgeber der
Hannoverschen Schriften, von denen gerade Bd. 3 Aspekte der
Alltagsreligion. Ideologiekritik unter veränderten gesellschaftlichen
Verhältnissen erschienen ist. Das Interview
führten Christoph Seidler, Jörg Später und Heiko Wegmann. iz3w nr. 251, februar/märz 2001 |