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Spiegel-RAF-Serie (III): Wie alles anfing

"High sein, frei sein"

Der erste Schuss fiel am 2. Juni 1967 in West-Berlin. In der Konfrontation mit der Staatsgewalt radikalisierte sich die Studentenbewegung. Die Befreiung Andreas Baaders im Mai 1970 markierte die Geburtsstunde der RAF. Von Michael Sontheimer

Die Stimmung schwankte zwischen Wut und Verzweiflung. Am Abend des 2. Juni 1967 hatten sich in der Zentrale des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) am Kurfürstendamm Dutzende junge West-Berliner versammelt. Unter den Studenten, die über die dramatischen Ereignisse des Tages sprachen, war auch die 26 Jahre alte Doktorandin der Germanistik Gudrun Ensslin. "Mit denen kann man nicht diskutieren", rief sie. "Das ist die Generation von Auschwitz!" Ihr Gesicht war bleich.

Die Pfarrerstochter schlug vor, eine Polizeikaserne zu stürmen, um sich zu bewaffnen. Wie ein "Todesengel" erschien sie einem Studenten. Ensslin hatte zuvor miterlebt, wie Polizisten Demonstranten blutig schlugen, die vor der Deutschen Oper gegen den iranischen Diktator Schah Mohammed Resa Pahlewi protestierten.

Ihre militante Idee stieß auf Ablehnung, doch ihr Wort von der "Generation von Auschwitz" hallte nach. Die Studenten stießen immer wieder auf Verbindungslinien zwischen Nazi-Deutschland und der Bundesrepublik.

So fanden sie heraus, dass die Planung für den brutalen Polizeieinsatz am Abend des 2. Juni 1967 dem Kommandeur der West-Berliner Schutzpolizei Hans-Ulrich Werner oblag. Der vormalige NSDAP-Parteigenosse hatte sein Handwerk im Zweiten Weltkrieg bei der "Bandenbekämpfung" in der Ukraine und in Italien gelernt. Der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, hatte ihn für seinen Einsatz mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.

Schon das zeigt: Die Geschichte der RAF, die die Bundesrepublik im Herbst 1977 an den Rand des Ausnahmezustandes brachte, ist eine sehr deutsche Geschichte.

Zwar formierten sich in den siebziger Jahren in vielen westlichen Industrieländern nach dem Zerfall der Studentenbewegungen terroristische Gruppen. "Aber in Westdeutschland", stellt die englische Autorin Jillian Becker fest, "wurde die Bewegung vor allem eine gewalttätige Gegenreaktion auf den totalitären Staat der vorangegangenen Generation." Becker gab ihrem Buch über die RAF deshalb den Titel: "Hitler's Children", Hitlers Kinder.

Niemand konnte am 2. Juni 1967 voraussehen, dass an diesem Tag in West-Berlin eine Eskalation begann, die einen 23 Jahre währenden Krieg der RAF gegen den Staat hervorbringen würde; einen Feldzug, der über 50 Menschen das Leben kosten sollte. Erst viel später auch wurde klar, dass nahezu alle, die in den Terrorismus abrutschten, zuvor auf Demonstrationen von Polizisten verprügelt worden waren.

"Die Bullen rannten auf uns zu wie die Wahnsinnigen", erinnert sich Bommi Baumann an den 2. Juni 1967. "Sie haben gleich losgeknüppelt, auf Frauen, auf alte Leute, immer sofort auf die Köpfe." Baumann zählte 1972 zu den Gründern der anarchistischen Stadtguerillatruppe "Bewegung 2. Juni", die mit der RAF konkurrierte.

Polizei-Greiftrupps in Zivil versuchten, sich unter den flüchtenden Demonstranten vermeintliche Rädelsführer zu schnappen. Zu einem dieser Trupps zählte der Kriminalbeamte Karl-Heinz Kurras, der auf einem Parkplatz Demonstranten nachsetzte. Dorthin lief auch der Student Benno Ohnesorg. Unter welchen Umständen Kurras dann Ohnesorg mit einem Kopfschuss aus seiner Pistole tötete, wurde nie vollständig aufgeklärt*.

Es spricht allerdings vieles dafür, dass Kurras Ohnesorg in den Kopf schoss, während der Student gerade von Polizisten verprügelt wurde. Jedenfalls hörten Zeugen, wie ein Kollege Kurras anherrschte: "Bist du wahnsinnig, hier zu schießen" - und Kurras antwortete: "Die ist mir losgegangen."

Am Morgen nach dem Todesschuss trat ein weiterer Akteur in Aktion, den Ex-Innenminister Gerhart Baum als "entscheidend für die Eskalation zum Terrorismus" bezeichnet: der Axel-Springer-Verlag. Er kontrollierte über zwei Drittel der Tagespresse in West-Berlin. "Wer Terror produziert", kommentierte die "B.Z." in grotesker Verkehrung des Geschehens, "muss Härte in Kauf nehmen." Die "Bild"-Zeitung geißelte die "SA-Methoden" der Studenten.

Fritz Teufel von der Kommune 1, den Polizisten vor der Oper brutal zusammengeschlagen hatten, wurde des schweren Landfriedensbruchs beschuldigt und über zwei Monate in Untersuchungshaft gehalten. Der Todesschütze Kurras musste hingegen keinen einzigen Tag hinter Gittern darben. Er wurde wegen "fahrlässiger Tötung" angeklagt, aber freigesprochen und arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Kriminalbeamter weiter. Otto Schily, der an der Oper mitdemonstriert hatte, erinnerte sich später: "Mein Glaube an die Rechtsstaatlichkeit, an die Unabhängigkeit des Gerichts, der ging damals ziemlich den Bach runter."

Das Foto vom 2. Juni 1967, das zur Ikone wurde, zeigt die Studentin Friederike Dollinger, wie sie neben ihrem tödlich verwundeten Kommilitonen kauert. Das Erlebnis habe sie "in eine mir eigentlich fremde Radikalität" getrieben. "Der Sound dieser Jahre", sagt der Verleger Klaus Wagenbach, "war die Wut auf den Staat." Der Schuss auf Benno Ohnesorg war ein Schuss in viele Köpfe. Er war die Initialzündung für die Studentenbewegung.

Kurz nach dem Tod Ohnesorgs traf sich Gudrun Ensslin mit Gleichgesinnten, um

eine Aktion gegen den Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz zu planen. Er trug die politische Verantwortung für den Polizeieinsatz. Es wurden T-Shirts mit einzelnen Buchstaben bemalt. Vorn stand "ALBERTZ !" hinten "ABTRETEN". Ensslin trug das Hemd mit dem Ausrufungszeichen.

Bei einem Treffen dieser "Buchstabenballett"-Aktivisten stieß Ensslin bald auf einen Mann, der sich bislang vorwiegend in Künstlerkneipen und Schwulenbars herumgetrieben hatte. Er war vier Jahre zuvor aus München in die Mauerstadt gekommen: Andreas Baader. Obwohl er und Ensslin in festen Beziehungen lebten und kleine Kinder hatten, knisterte es sofort zwischen ihnen.

Gudrun Ensslin, das vierte von sieben Kindern eines protestantischen Pfarrers von der Schwäbischen Alb, war 1964 nach West-Berlin gezogen. Ein Jahr später arbeitete sie für Günter Grass' Initiative zur Unterstützung der SPD. Als sich die Sozialdemokraten aber mit der CDU auf die Große Koalition unter Führung des Ex-NSDAP-Parteigenossen Kurt Georg Kiesinger einließen, wandte sich die Studentin enttäuscht von ihnen ab.

Ensslin war eine kühle Intellektuelle. Als sie erstmals in Haft war, erregte sie die Bewunderung der Gefängnisdirektorin, "weil sie so absolut ist, notfalls mit dem Leben für ihre Überzeugung eintritt".

Baader war drei Jahre jünger als Ensslin, körperlich präsent und ebenso unverschämt wie charmant. Er motzte unentwegt, war direkt und vulgär, konnte sich in stundenlangen Monologen ergehen. Den Verleger Wagenbach erinnerte er an "einen kleinen Zuhälter"; die meisten Männer konnten ihn schwer ertragen. "Doch bei Frauen", so ein Ex-RAF-Mann, "hatte er einen Stich."

Baader ging nicht arbeiten, hatte nie Geld und ließ sich aushalten. Aber der Künstlerin, mit der er zusammenlebte, bevor er Gudrun Ensslin traf, prophezeite er: "Eines Tages wirst du mich auf dem Cover des SPIEGEL sehen."

"Gudrun und Andreas", erinnert sich deren einstige Freundin Astrid Proll, "ergänzten sich genial." Die beiden waren ein Paar, das Himmel und Hölle in Bewegung setzen konnte, sie bildeten später die Doppelspitze der RAF.

Der 2. Juni 1967 hatte auch Bohemiens wie Baader politisiert. Astrid Proll, deren älterer Bruder Thorwald sich mit Baader angefreundet hatte, fuhr die beiden und deren Freunde nachts durch West-Berlin. Sie brüllten aus dem Fenster: "Wir schlagen alles kaputt, wir schlagen alles kaputt!"

Nach einer der vielen Demonstrationen murrte Baader: "Jetzt laufen wir hier durch die Gegend, und das war es dann. Das bringt doch nichts. So ändert sich nie etwas." Da er den theoretisch versierten Studenten nicht gewachsen war, drängte er auf radikale Aktionen. Einmal schlug er vor, den Turm der Gedächtniskirche in die Luft zu sprengen.

Die romantisch verklärte Idee, der die Studenten, aber auch Schüler und Lehrlinge reihenweise verfielen, hieß Revolution. Sie bewunderten Fidel Castro, noch mehr den coolen Ché Guevara, und Mao Zedong, dessen Rote Garden in der chinesischen Kulturrevolution alles Alte bedenkenlos abräumten. Das passte gut zum Misstrauen gegen die eigenen Eltern, die über die Nazi-Jahre schwiegen.

Zu diesem Schweigen kam der kleinbürgerliche Muff der Adenauer-Jahre. Die Eltern standen unter Generalverdacht. "Trau keinem über 30", hieß die Parole.

Im Sommer 1968 war mehr als die Hälfte aller Studenten zum Demonstrieren auf die Straße gegangen. Nahezu zwei Drittel aller Studenten und Gymnasiasten im Alter von 17 bis 25 standen laut einer Umfrage dem Parteiensystem misstrauisch gegenüber; ein Drittel hing marxistischen Ideen an.

Zutiefst erschüttert wurden die Rebellen in der gesamten westlichen Welt von den Bildern aus Vietnam. Der Saigoner Polizeichef, der auf offener Straße einen Vietcong mittels Kopfschuss tötet; das Massaker von My Lai.

Dass die Supermacht der westlichen Welt im Namen der Freiheit mehr als eine Million vietnamesische Zivilisten umbrachte, war für die Jugend in San Francisco, Paris oder Berlin unerträglich. Als sich die Neue Linke im Februar 1968 in Berlin zum Vietnam-Kongress versammelte, waren nicht nur Baader und Ensslin dabei, sondern die meisten, die später mit ihnen in den Untergrund gingen. "Ohne den Vietnam-Krieg", sagte der RAF-Mann Klaus Jünschke später, "hätte es uns nicht gegeben."

Im März 1968 brachen Baader, Ensslin und Proll mit einem weißen Ford-Straßenkreuzer nach München auf, wo sich ihnen der Schauspieler Horst Söhnlein anschloss. Nachts in den Kneipen fabulierten sie davon, ein Fanal zu setzen. Das taten sie kurz darauf in Frankfurt.

Ein paar Minuten vor Ladenschluss deponierten sie in zwei Kaufhäusern jeweils zwei Brandsätze. Kurz vor Mitternacht brach das erste Feuer aus. Der Schaden, vor allem durch Löschwasser, betrug laut Versicherung 673 204 Mark. Niemand wurde verletzt. Schon zwei Tage später verhaftete die Polizei das Quartett.

Während die Brandstifter in Untersuchungshaft saßen, sorgte ein Neonazi für die weitere Radikalisierung der Neuen Linken: Am 11. April 1968 fuhr der Anstreicher Josef Bachmann von München nach West-Berlin. Er suchte Rudi Dutschke, den charismatischen Kopf der Bewegung, und traf ihn auf dem Kurfürstendamm vor dem SDS-Zentrum. "Du dreckiges Kommunistenschwein", rief er, bevor er dreimal auf Dutschke schoss.

In Ost-Berlin dichtete Wolf Biermann daraufhin ein Lied. "Die Kugel Nummer eins kam aus Springers Zeitungswald", hieß es darin. Das Fazit des späteren Kulturkorrespondenten des Springer-Blattes "Welt": "Wenn wir uns jetzt nicht wehren, wirst du der Nächste sein."

Noch am Abend des Mordanschlages, den Dutschke nur knapp überlebte, zogen über tausend Demonstranten zum Springer-Hochhaus in der Kochstraße. Mit dabei war die Hamburger Journalistin Ulrike Meinhof, Kolumnistin des linken Monatsmagazins "Konkret".

Die Studentenrevolte griff jetzt von West-Berlin auf die gesamte Westrepublik über. Über 20 000 Polizisten wurden aufgeboten, um die "Osterunruhen" niederzuschlagen. In 27 Städten versuchten wütende Demonstranten, die Auslieferung der Springer-Zeitungen zu verhindern. Es kam zu den größten Straßenschlachten seit Gründung der Republik.

Im Oktober 1969 eröffnete das Landgericht Frankfurt die Hauptverhandlung gegen die vier Kaufhausbrandstifter. Als Verteidiger reisten zwei fähige junge Anwälte aus Berlin an: Otto Schily und Horst Mahler. Zwei der Brandstifter steckten sich auf der Anklagebank als Hommage an Ché Guevara dicke Zigarren an. Der aus Frankreich ausgewiesene Dany Cohn-Bendit hielt eine Rede und wurde wegen Störung der Verhandlung in Ordnungshaft genommen (siehe Interview Seite 102).

Ulrike Meinhof besuchte Ensslin im Gefängnis und war sofort fasziniert von ihr. Sie weigerte sich aber, über ihre Gespräche mit Ensslin und Baader zu schreiben. "Wenn ich das tue", sagte sie, "kommen die nie aus dem Gefängnis."

Vor Gericht jedoch erklärte Ensslin, sie hätten keine Menschen gefährden wollen. "Wir taten es aus Protest gegen die Gleichgültigkeit, mit der die Menschen dem Völkermord in Vietnam zusehen." Und sie verkündete, ganz im Geiste Martin Luthers: "Wir haben gelernt, dass Reden ohne Handeln Unrecht ist."

Ende Oktober 1968 wurden die vier wegen "menschengefährdender Brandstiftung" zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Während sie sich in der Haft langweilten, besetzten in München Studenten das Institut für Zeitungswissenschaften, um gegen den Vietnam-Krieg zu protestieren. Eine 20 Jahre alte Aktivistin erhielt dafür einen Strafbefehl wegen "erschwerten Hausfriedensbruchs". In einem Bericht der Familienfürsorge heißt es: "M. tut der Vorfall leid. Sie hat sich vorgenommen, dass Derartiges nicht mehr vorkommen sollte." Aus Brigitte Mohnhaupts Vorsatz wurde nichts. Sie schloss sich zwei Jahre später der RAF an und übernahm im Frühjahr 1977 die Führung der zweiten Generation der Gruppe.

Mitte Juni 1969, nachdem die Brandstifter 14 Monate hinter Gittern verbracht hatten, erwirkte ihr Anwalt Horst Mahler für sie Haftverschonung. Als sie die wiedergewonnene Freiheit in Frankfurt mit einer Party in einem Künstleratelier feierten, setzten sich Baader, Ensslin und andere einen Schuss Opiumtinktur - und infizierten sich prompt mit der unheilbaren Hepatitis C.

Die Studentenbewegung hatte da ihren Zenit schon überschritten. Hunderte Studenten waren von Strafverfahren wegen Demonstrationsdelikten bedroht. Die breite Bewegung spaltete sich in Polit-Sekten, die das Proletariat missionieren wollten. Baader, Ensslin und die beiden Proll-Geschwister schlossen sich lieber der sogenannten Heimkampagne von Pädagogikstudenten an, die die geschlossenen Erziehungsheime abschaffen wollten.

Die Brandstifter sammelten Geld für die Heimzöglinge, besorgten Lehrstellen. Ulrike Meinhof tauchte wieder auf und machte Rundfunksendungen über die erfolgreiche Kampagne. Einer der vielen aus Heimen ausgebrochenen Jugendlichen, der in Frankfurt von Baader und Ensslin in einer Wohngemeinschaft aufgenommen wurde, hieß Peter-Jürgen Boock. Acht Jahre später wurde er zu einer führenden Figur der zweiten Generation der RAF.

Im November 1969 lehnte der Bundesgerichtshof die Revision gegen das Brandstifter-Urteil ab. Gudrun Ensslin hatte für diesen Fall schon alles vorbereitet. Sie und Baader gingen über die Grüne Grenze nach Frankreich. Obwohl sie noch nicht auf der Fahndungsliste standen, ließen sie in Amsterdam manipulierte Papiere besorgen. Sie waren der Romantik der Illegalität verfallen. In Paris kauften sie sich auf einem Flohmarkt schwarze Lederjacken, tranken abends in den Cafés weißen Rum und Absinth. Eine Zeitlang lebten sie in der Wohnung des Revolutionstheoretikers Régis Debray, der auf dem Weg zu Ché Guevara in den Dschungel gefasst und in Bolivien inhaftiert worden war.

Astrid Proll kam mit ihrem weißen Mercedes 220 SE nach Paris. Zusammen mit dem flüchtigen Paar fuhr sie zuerst nach Zürich, dann über Mailand nach Rom. Nach einem Ausflug nach Sorrent und Sizilien, nach LSD-Trips und Langeweile, bekam das Paar in Rom Besuch aus der Heimat: Horst Mahler schlug ihnen vor zurückzukehren. In Berlin sei eine Stadtguerillagruppe im Aufbau.

Anfang 1970 zog das Paar bei Ulrike Meinhof ein, die nach ihrer Scheidung in der Mauerstadt lebte. Sie hatte den Übergang "vom Protest zum Widerstand" gefordert; jetzt war sie langsam bereit, ihren Worten Taten folgen zu lassen.

Horst Mahler - die bizarrste Figur der gesamten RAF - hatte, wie bislang unbekannte Quittungen zeigen, noch ein halbes Jahr zuvor, im Sommer 1969, der NPD drei Spenden zukommen lassen. Jetzt trieb er den Aufbau einer kommunistischen Guerilla-Gruppe voran. Der Springer-Konzern hatte zivilrechtlich gegen ihn durchgesetzt, dass er mehr als 75 000 Mark für die Schäden bei der Blockade des Konzerngebäudes nach dem Dutschke-Attentat zahlen sollte. Seine bürgerliche Existenz war ruiniert.

In West-Berlin hatte sich mittlerweile rund um ein paar Kommunen eine anarchistische Subkultur etabliert. Ein "Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen" mobilisierte Hippies für militante Aktionen. Aber es ging noch mehr um Spaß als um ernsthafte Politik: "High sein, frei sein, Terror muss dabei sein!"

Als "Tupamaros West-Berlin" hatten die Anarchisten im Herbst 1969 die ersten Bomben gelegt. Einige der Tupamaros schlossen sich später der RAF an, andere gründeten die "Bewegung 2. Juni". Die Gründer der RAF wollten "an der Basis" arbeiten, im Märkischen Viertel, einer Trabantenstadt, das Proletariat aufwiegeln - und gleichzeitig illegal agieren. Gegen Baader und Ensslin aber waren inzwischen, da

sie die Ladung zum Strafantritt ignoriert hatten, Vollstreckungshaftbefehle ergangen.

Die Gruppe hatte ein großes Problem: Sie wollte den bewaffneten Kampf aufnehmen, hatte aber keine Waffen. Horst Mahler wandte sich deshalb an einen Mann namens Peter Urbach. Der hatte sich schon der Kommune 1 angedient und Brandbomben geliefert. Auch der Prototyp für die Brandsätze, die in den Frankfurter Kaufhäusern zum Einsatz gekommen waren, stammte von ihm. Das Dumme war nur: Urbach war Mitarbeiter des Berliner Landesamts für Verfassungsschutz.

Obwohl die Tupamaros Mahler vor dem Agent provocateur gewarnt hatten, ging dieser auf Urbachs Vorschlag ein, zusammen mit Baader und zwei weiteren Genossen auf einem Friedhof am Stadtrand nach Pistolen zu graben, die angeblich dort versteckt lagen. Auf dem Weg dorthin nahm die Polizei Baader fest.

Als Baader wieder im Gefängnis saß, wurde ein neuer Plan zur Waffenbeschaffung gefasst. "Wir wollten uns", so ein Ex-RAF-Mann, "an der Mauer in Kreuzberg zwei Polizisten schnappen und ihnen die Uniformen und Maschinenpistolen abnehmen." Mahler und zwei Genossen warteten an einer dunklen Ecke in Kreuzberg auf eine Doppelstreife. Doch als die Grenzpatrouille sich näherte, verlor Mahler die Nerven, sprang aus dem Auto und vermasselte den Überfall. Gudrun Ensslin beschimpfte die drei Männer anschließend als "unfähige Macker".

Sie war wild entschlossen, ihren Geliebten zu befreien. Um endlich an Schusswaffen zu kommen, gingen zwei Frauen der Gruppe in eine Kneipe namens Wolfsschanze, einen schummrigen Treffpunkt von Nazis und Kriminellen. Bei einem aus der DDR freigekauften Zuchthäusler erwarben sie für 2000 Mark zwei Pistolen. Zudem wurden zwei Kleinkalibergewehre angeschafft.

Ulrike Meinhof brachte den linken Verleger Wagenbach dazu, einen Vertrag aufzusetzen, nach dem sie und Baader ein Buch über "randständige Jugendliche" schreiben sollten. Mit diesem Vertrag beantragten Meinhof und Baaders Anwalt Mahler bei der Leitung der Justizvollzugsanstalt Tegel die Ausführung Baaders in das Deutsche Zentralinstitut für Soziale Fragen - angeblich, um dort nicht ausleihbare Zeitschriften zu studieren.

"Ich war für die Befreiung", erinnert sich Wagenbach, "denn Baader war ungerecht behandelt worden." Gleichzeitig war er "absolut dagegen, dass Ulrike Meinhof in den Untergrund geht". Da sein Verlag überwacht wurde, machte er mit der Journalistin einen Spaziergang. Wagenbach fand die Idee des bewaffneten Kampfs absurd. "So viele gute Federn wie dich gibt es nicht", bestürmte er Meinhof. Doch er erreichte sie nicht mehr.

Zunächst bestand die Gruppe, die Baader befreien wollte, aus fünf Frauen. Sie befürchteten, von den Bewachern Baaders nicht für voll genommen zu werden. Also beschlossen sie, einen Mann mitzunehmen.

Ausgerechnet dieser Mann schoss, unmittelbar nachdem er als letzter zusammen mit Gudrun Ensslin in das Institut gekommen war, auf einen 62 Jahre alten Angestellten. Das Projektil durchschlug dessen Oberarm und blieb in der Leber stecken. Nachdem das Kommando in den Lesesaal gestürmt war, in dem Baader und Meinhof arbeiteten, kam es zu einem wilden Handgemenge mit den beiden bewaffneten Justizwachtmeistern.

Es fielen sechs Schüsse, ein Wachtmeister wurde durch Tränengas im Gesicht verletzt. Baader sprang aus dem Fenster; Ulrike Meinhof sprang in Panik hinterher.

Meinhof blieb einen Tag lang verschwunden. Als sie wieder zur Gruppe stieß, trug sie eine blonde Perücke und wirkte verstört. An den Litfaßsäulen prangten bald Fahndungsplakate mit großen Fotos von ihr.

"Wir waren irre sauer auf Ulrike", sagt ein Ex-RAF-Mann. Sie musste jetzt versteckt werden, doch es gab noch keine konspirativen Wohnungen. Zudem galt es, ihre beiden Töchter zu versorgen.

Die erste Aktion der RAF, der Auftakt für den Guerillakampf, war also nur sehr bedingt geglückt. Obwohl man die Waffen nicht benutzen wollte, war geschossen worden: ein Muster, das sich in den folgenden Jahren wiederholen sollte.

Eine Woche nach der Aktion dokumentierte das Berliner Anarchistenblatt "Agit 883" eine von Ulrike Meinhof verfasste Erklärung. "Die Baader-Befreiungs-Aktion", hieß es darin, "haben wir nicht den intellektuellen Schwätzern zu erklären, sondern den potentiell revolutionären Teilen des Volkes." Der Text endete mit dem Aufruf: "Das Proletariat organisieren. Mit dem bewaffneten Widerstand beginnen! Die Rote Armee aufbauen!"

Die RAF hatte ihr Leitmotiv der nächsten zehn Jahre gefunden: Bis zum "Deutschen Herbst" 1977 sollte es immer wieder darum gehen, Andreas Baader aus dem Gefängnis zu holen. Besonders die zweite Generation der Gruppe agierte über weite Strecken als Baader-Befreiungs-Fraktion.

Auch die Fixierung auf die Staatsgewalt war schon angelegt. In einer vom SPIEGEL veröffentlichten zweiten Erklärung hieß es: "Wir sagen: Der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden."

Der Sound war unversöhnlich und brutal. "Entweder Schwein oder Mensch", brachte es der RAF-Mann Holger Meins später auf den Begriff, "dazwischen gibt es nichts." Das wahnhafte Weltbild war schwarzweiß. Und einzig die RAF war im Besitz der Wahrheit.

 Mirrored from: DER SPIEGEL 39/2007 vom 24.09.2007, Seite 98