|
|||||
SDS-Website |
|||||
Henryk Broder
Das Seminar, zu dem wir uns hier
versammelt haben, heißt "Linker Antisemitismus - Fragezeichen"; würde
ein Seminar über rechten Antisemitismus ebenfalls als Frage daherkommen?
Ich bin sicher, niemand würde in einem solchen Falle zweifeln oder
erstaunt sein, daß es rechten Antisemitismus gibt, ein Fragezeichen wäre
überflüssig. Was also "for granted" genommen, für normal und
selbstverständlich gehalten wird, wenn es von rechts kommt, löst einen
cognitiven Widerstand aus, kreuzt es unsere Wahrnehmung von links her.
Nicht, daß wir es nicht sehen würden. Wir sehen es, aber zugleich spüren
wir einen inneren Widerstand, das Gesehene zu glauben, es als das
hinzunehmen, was es ist. Wir möchten lieber unseren Augen und
Ohren nicht trauen, von einer optischen und akustischen Fata morgana
reingelegt werden, als einer Wirklichkeit ins Gesicht zu schauen, die
uns zwingen könnte, sich von unseren Illusionen zu verabschieden.
Ähnlich der Springer-Presse, die DDR immer noch in Anführungszeichen
schreibt und damit die Existenz des zweiten deutschen Staates zwar zur
Kenntnis nimmt, zugleich aber diese Tatsache nicht anerkennt, nehmen wir
das Vorhandensein eines linken Antisemitismus zur Kenntnis, mögen uns
aber mit dieser Erscheinung nicht abfinden. Statt mit Anführungszeichen
behelfen wir uns mit einem Fragezeichen. Ich spreche aus Erfahrung, ich habe es vor Jahren
selbst so gemacht.
Meinen ersten
Aufsatz zu diesem Thema schrieb ich im Jahre 1976. Er hieß: "Antizionismus
- Antisemitismus von links - Fragezeichen"; den dringenden Verdacht, daß
der neue Antisemitismus im Kostüm des Antizionismus auftritt, mochte ich
nur in der Frageform aussprechen, um mir die Chance eines Irrtums zu
lassen. Rückblickend betrachtet, wollte ich mich um eine Erkenntnis
drücken, die zu Ende gedacht persönliche und politische
Konsequenzen nach sich hätte ziehen müssen, die ich damals vermeiden
wollte und die ich erst Jahre später zu akzeptieren bereit war.
Allerdings - eine erweiterte Fassung dieses ersten Aufsatzes, die Ende
1976 in einem Büchlein erschien, hieß schon "Antizionismus - linker
Antisemitismus", ohne einschränkende, relativierende, versöhnende
Fragezeichen. Ich weiß noch, was mich damals auf dieses Thema gebracht
oder wie man heute sagt: sensibilisiert hat. Es war die Entführung der
Air-FranceMaschine nach Entebbe und die anschließende Selektion
jüdischer Passagiere, die von jungen linken Deutschen durchgeführt wurde.
Fassungslos, vollkommen fassungslos verfolgte ich damals die Reaktionen
der diversen linken Gruppen, die sich nicht über die Entführung und die
Selektion aufregten, sondern über die israelische Reaktion, das heißt
die gewaltsame Befreiung der Geiseln auf dem Flughafen von Entebbe. Abschied von
Illusionen Die Rote Fahne der KPD verglich
die "Piratenaktion" der Israelis mit den "Blitzkriegen der
Hitlerfaschisten" und verurteilte "aufs schärfste die militärische
Aggression der zionistischen Truppen gegen Uganda. Bei diesem allen
Normen des Völkerrechts spottenden Überfall sind mehr als 20 Soldaten
der ugandischen Armee heimtückisch ermordet worden", klagte die Rote
Fahne, die weder die Entführung noch die Judenselektion als eine
Verletzung des Völkerrechts und einen Akt der Heimtücke ansah. Das
Mitgefühl der Roten Fahne galt exklusiv dem damaligen Diktator von
Uganda: "Dem Ministerpräsidenten von Uganda, seiner Exzellenz Idi Amin,
drücken wir unsere uneingeschränkte Solidarität aus und versichern ihm
unser tief empfundenes Mitleid angesichts der Ermordung von Angehörigen
der ugandischen Armee...". Ähnlich äußerte sich der Rote Morgen, das
Organ der KPD/ML. Da war die Rede von einem "faschistischen
Aggressionsakt der israelischen Zionisten", einer "Gangsterbande, die
vor keinem noch so feigen und niederträchtigen Verbrechen zurückschreckt"
und es wurde ebenfalls eine historische Parallele bemüht, nämlich der
Überfall auf den Sender Gleiwitz: "Nach
dem Muster dieser faschistischen Propaganda der Hitlerfaschisten, mit
der sie ihren faschistischen Überfall auf Polen 'rechtfertigten', wird
jetzt der Überfall der israelischen Zionisten als 'Akt der Notwehr' und
der 'Selbstverteidigung' hingestellt..." - Akt der Notwehr und
Selbstverteidigung standen in Anführungszeichen. Damit die Parallele zu
dem Überfall auf den Sender Gleiwitz richtig aufgeht, hätte der Rote
Morgen allerdings behaupten müssen, daß die Israelis die Maschine, wie
einst die Nazis den Sender Gleiwitz, selber überfallen und entführt
hätten, um einen Vorwand für den anschließenden überfall zu haben.
Die Kommunistische
Volkszeitung, das Zentralorgan des Kommunistischen Bundes
Westdeutschland (KBW) assoziierte ebenfalls "Hitlers Blitzkriege" und
orakelte: "Man weiß, wie es mit dem Dritten Reich geendet hat. So wird
es allen aggressiven Mächten ergehen, ihr Scheitern ist gesetzmäßig. Die
jetzige Aggression Israels gegen einen unabhängigen und souveränen Staat
Afrikas wird früher oder später die angemessene Antwort erhalten...".
Mochte die angemessene Antwort früher oder später kommen, die
angemessene "Einschätzung" der Entführungsaktion erfolgte auf der Stelle.
"Die Flugzeugentführer hatten gerechte Forderungen aufgestellt", schrieb
die KVZ, "die Freilassung von politischen Häftlingen in Israel und die
Freilassung anarchistischer Häftlinge in Westdeutschland. Wer solche
Forderungen als terroristisch bezeichnet, verstellt die Tatsachen. Noch
nicht einmal die Methoden sind terroristisch. Sie sind phantastisch,
denn sie setzen darauf, daß der Feind, Zionismus und Imperialismus, um
Blutvergießen zu vermeiden, zu einem Austausch von Menschen bereit seien.
Das ist eine phantastische Annahme... Auf die phantastischen
Flugzeugentführungen antworten sie (die Zionisten) nicht mit der
Freilassung der Gefangenen, sondern mit Feuerüberfällen. Sie sind keine
Phantasten, sondern wirklich Terroristen...".
Eine phantastische "Einschätzung", in der Tat.
Der Arbeiterkampf,
das Organ des Kommunistischen Bundes, meinte, Israel habe "Unter dem
Vorwand einer 'Geiselbefreiung'" - Geiselbefreiung
in Anführungszeichen - "ein militärisches Kommandounternehmen gegen
Uganda durchgeführt" und faßte den ganzen Nahostkonflikt in einer
Metapher zusammen: "Israel, eine Mörderzentrale in ständiger 'Notwehr" -
Notwehr in Anführungszeichen - "ist in der Situation eines Gangsters,
der in ein fremdes Haus eingedrungen ist, die Bewohner vertrieben hat
und der nun frech behauptet, er befinde sich in 'Notwehr', wenn er auf
die Bewohner und ihre Kinder ballert, die in ihr
Haus zurück wollen..."
- Ein schönes Gleichnis, das gelegentlich auch die deutschen
Vertriebenen gegenüber den Polen verwenden, bei dem nur vergessen wurde
zu erklären, welche Motive ausgerechnet Deutsche der
Nachkriegsgeneration, die unmöglich von den Zionisten
aus ihrem
Haus vertrieben worden sein können, dazu gebracht haben, Juden von
Nichtjuden zu selektieren.
Die UZ, die Zeitung
der DKP, spielte die Flugzeugentführung anfangs mit kleinen Meldungen
runter. Die Frage, wer wen entführt hatte, wurde mit einer unglaublichen
Diskretion behandelt. Zur Identität der Entführer hieß es, sie würden
sich "als Angehörige einer 'Volksfront für die Befreiung Palästinas'
(PFLP) ausgeben", grad so, als hätte die UZ von der Volksfront
zur Befreiung Palästinas des George Habasch noch nie etwas gehört,.
einer Organisation, die von der UZ
gewöhnlich
zu den fortschrittlichen anti-imperialistischen Kräften gezählt wird.
Reichte ein unbestimmter Artikel zur Verschleierung der Täter aus, so
wurden die Opfer noch unbestimmter beschrieben. Nach der Freilassung der
arischen Geiseln hieß es in der UZ: "Nachdem die Luftpiraten am
Donnerstagabend insgesamt 101 Geiseln freigelassen haben, die mit einem
Sonderflugzeug unverzüglich nach Paris gebracht wurden, befinden sich
noch 98 Passagiere sowie die zwölfköpfige Flugzeugbesatzung in ihrer
Gewalt...". Die UZ verlor kein
Wort
darüber, welche Passagiere freigelassen wurden und welche in der Gewalt
der Luftpiraten geblieben waren, kein Wort darüber, daß ausschließlich
Nicht-Juden gehen durften und ausschließlich Israelis und Juden aus
anderen Ländern bleiben mußten. Die Zurückhaltung der UZ schwand
schlagartig, nachdem die jüdischen Geiseln befreit worden waren. Da
wachte der Gerechtigkeitssinn der UZ wie aus der Narkose auf und empörte
sich über die "flagrante Verletzung der Souveränität eines
Mitgliedsstaates der Vereinten Nationen", wurde der "israelische
Gewaltakt" angeprangert und "Israel als Aggressor" verurteilt.
Der
Zwangscharakter antizionistischer Solidarität Ich habe mit diesem schönen
Fallbeispiel linker antizionistischer Solidarität, von dem ich Ihnen nur
einige Kostproben serviert habe, aus mehreren Gründen angefangen; an der
Entebbe-Geschichte, die vor genau acht Jahren stattgefunden hat und
inzwischen fast vergessen ist, läßt sich einiges mit exemplarischer
Klarheit zeigen. Es passiert so gut wie nie, daß alle linken
Gruppen, die am liebsten gegeneinander statt gegen den gemeinsamen Feind
Imperialismus kämpfen, die sich normalerweise nicht mal auf eine
gemeinsame Uhrzeit einigen können, es passiert so gut wie nie, daß alle
linken Gruppen sich dermaßen einig sind. Eine solch breite Einheitsfront
könnte es in keinem anderen Fall geben, nicht bei der "Einschätzung" des
sowjetischen Einmarsches in Afghanistan, nicht bei der Beurteilung der
Lage im Iran unter Khomeini und auch nicht bei irgendeinem einheimischen
Konflikt, sei es die Startbahn West oder die Reste der Stadtguerilla.
Das allen gemeinsame antijüdische Ressentiment hatte sich wieder als die
amalgamierende Masse erwiesen, der gemeinsame Nenner, auf dem diese
Solidaritätsübung präsentiert werden konnte. Ich werde auf dieses
Phänomen der von Juden ausgelösten Solidarität später noch einmal
eingehen.
Normalerweise ist
die staatliche Souveränität kein Gut, das Linken viel bedeutet. Dem
Gedanken des Internationalismus verpflichtet, wird die Souveränität
eines Staates als das Mittel angesehen, mit dem die jeweils herrschende
Klasse ihren Machtanspruch sichert und durchsetzt. Die Symbole und
Werkzeuge dieser Souveränität - die Fahne und die Hymne, das Militär und
die Polizei - stehen auf der Skala linker Werte, zu recht, nicht sehr
weit oben. Im Falle von Entebbe haben sich nun dieselben Linken,denen
die staatliche Souveränität im allgemeinen
so wurscht ist wie
das zollamtliche Verbot, mehr als zwei Stangen Gauloise über
die Grenze zu bringen, als glühende Verteidiger des abstrakten Prinzips
staatlicher Souveränität erwiesen. Damit nicht genug, machten sie eine
tiefe Verbeugung vor einem Despoten, der trotz der von ihm zu
verantwortenden Massenmorde als "Antiimperialist" im fortschrittlichen
Lager einen guten Ruf hatte. Vor acht Jahren, 1976, waren in
Israel noch die Sozialdemokraten an der Regierung, die Buhmänner Begin
und Sharon, die jeder antiisraelischen Stellungnahme einen Hauch von
Rechtfertigung verleihen, saßen in der Opposition und konnten nicht als
Alibi herangezogen werden. Der Einmarsch im Libanon, der sechs Jahre
später in der westdeutschen Friedensbewegung so gewaltige Energien
freisetzen sollte, stand noch in den Sternen. Wenn irgendeine Aktion als
ein Akt der Notwehr, als ein übergesetzlicher, Notstand verstanden
werden konnte, dann war es die gewaltsame Befreiung der jüdischen
Geiseln von Entebbe. Aber dieser Gedanke trat total in den Hintergrund
angesichts des Frevels, der da "flagrante Verletzung der Souveränität
eines Mitgliedstaates der Vereinten Nationen" genannt wurde. Im übrigen
hat keiner von jenen, denen die Souveränität Ugandas auch das Leben von
hundert Juden wert gewesen wäre, sich über die Verletzung der
Souveränität der Bundesrepublik aufgeregt, als palästinensische
Terroristen die israelische Olympia-Mannschaft in München überfielen.
Auch dies war nicht Terror, sondern vermutlich eine andere "phantastische"
Aktion, und die Bundesrepublik ist, im Gegensatz zu Uganda, ein
imperialistischer Staat, auf dessen Souveränität nicht Rücksicht
genommen werden muß.
Die Entebbe-Affäre, die Solidarisierung eines Teils der westdeutschen
Linken mit Idi Amin und den Entführern und das Schweigen des größeren
Teils der westdeutschen Linken zu der ersten nach dem Krieg von
Deutschen organisierten Judenselektion war für mich das, was man in der
populären Küchenpsychologie ein Aha-Erlebnis nennt. Ich fing an, genauer
hinzuhören und hinzusehen und entdeckte Dinge, die mir vorher nicht
aufgefallen
waren, vielleicht weil ich sie nicht sehen und nicht hören
wollte. In dem anfangs erwähnten Aufsatz "Antizionismus -
linker Antisemitismus" hatte ich eine größere Anzahl von Beispielen und
Belegen für meine These gesammelt, daß eine sich selbst als
Antizionismus etikettierende Haltung nur ein zeitgemäß kaschierter
Antisemitismus ist, der nach Auschwitz offen aufzutreten sich nicht
erlauben kann. Ich muß heute zugeben, daß ich mir damals wie Marco Polo
auf seiner ersten Indien-Reise vorkam. Ich war sicher, argumentatives
Neuland betreten und ganz neue, noch nie gedachte Gedanken entwickelt zu
haben. Diese fröhliche Unbefangenheit war eine Folge meines lückenhaften
Wissens. Ich kannte damals die Arbeiten von Jean Amery und Jean Paul
Sartre, die sich mit dem von mir soeben entdeckten Neuland befaßten,
noch nicht, und war deswegen unbelastet wie ein Bastler, dem zufällig
eine Entdeckung gelingt, die leider schon andere vor ihm gemacht haben.
Hätte ich damals gelesen, was ich inzwischen gelesen habe, ich hätte
kein Wort zu diesem Thema selber geschrieben. Es wäre mir albern und
anmaßend vorgekommen, mich zu Dingen zu äußern, zu denen Sartre und
Amery schon so viel Kluges gesagt haben. Aber Hand aufs Herz, meine Damen
und Herren, wer von Ihnen kennt zum Beispiel die Rede über den "ehrbaren
Antisemitismus" von Jean Amery oder Sartres "Betrachtungen zur
Judenfrage", die 1948 auf deutsch erschienen sind und erst 1981 wieder
aufgelegt wurden? Ich hatte Glück im Unwissen: Die Leser meiner Aufsätze
hatten Amery und Sartre auch nicht gelesen und konnten sich deswegen
genauso unbelastet über mich aufregen wie ich es über die linken
Antisemiten tat.
Der ehrbare
Antisemitismus
Amery hat seine Rede
über den "ehrbaren Antisemitismus" im Jahre 1976 gehalten. Er sagte "ein
allgemeines Mißbehagen gegenüber den Juden" sei schon wieder
festzustellen, junge Menschen würden sich "mit diesem schimpflichen und
dummen Antisemitismus" solidarisieren, "sofern er sich nur als
Antizionismus geriert";
der "ehrbare
Antisemit" habe "ein beneidenswert reines Gewissen, ein.
meeresstilles Gemüt" und der Antisemitismus "eine in tiefen historischen
und psychologischen Schichten eingesenkten kollektive Struktur". Im
selben Jahr, 1976, veröffentlichte Gerhard Zwerenz einen Aufsatz unter
dem Titel "Linke Antisemiten gibt es nicht - Ausrufungszeichen". Das
klang wie eine dogmatische Feststellung und so war es wohl auch gemeint.
In diesem Aufsatz ging es unter anderem um Zwerenz' Roman "Die Erde ist
unbewohnbar wie der Mond" und Faßbinders Theaterstück "Der Müll, die
Stadt und der Tod", das damals schon umstritten war und immer noch für
Kontroversen sorgt. Dieser Aufsatz von Zwerenz enthielt keine einzige
antisemitische Häme, er war lediglich ein Unterfangen, per ordre de
mufti sozusagen, zu bestimmen, daß es linke Antisemiten nicht gibt, weil
es linken Antisemitismus nicht geben kann. Der Antisemitismus sei, von
Hause und von Natur aus, eine Spezialität der Rechten. Würde jemand den Versuch wagen,
nachzuweisen, daß Vegetarier keine Rassisten sein können oder daß
Angehörige von Tierschutzvereinen grundsätzlich ihre Kinder nicht
prügeln - er würde nur Kopfschütteln und Gelächter ernten. Nur im Falle
der Verbindung von links und antisemitisch wird mit geradezu obsessiver
Strenge an einem Unvereinbarkeitsbeschluß festgehalten, erklären linke
und liberale Bürgerliche, die sich sonst gerne als die Erben von Thomas
Münzer und der 48er Erhebung sehen, ihren Ausstieg aus der Geschichte.
Die in "tiefen historischen und psychologischen Schichten eingesenkte
kollektive Struktur" des Antisemitismus, von der Jean Amery spricht, die
mag es ja wirklich geben, aber nicht bei ihnen. Mit diesem Teil des
kollektiven nationalen Erbes haben sie nichts zu tun. "Zu den ebenso
hartnäckigen wie unbegründeten Vorurteilen der liberalen öffentlichen
Meinung und ihrer Geschichtsschreibung gehört die kuriose und von keinen
Tatsachen zu störende Vorstellung, daß der Antisemitismus ein Phänomen
der Reaktion und die Antisemiten Reaktionäre seien."
Diesen Satz hat
Hanna Arendt vor 35 Jahren geschrieben, aber das unbegründete Vorurteil,
von dem sie spricht, wird immer noch mit derselben Hartnäckigkeit gehegt.
Die kuriose und von keinen Tatsachen zu störende Vorstellung, der
Antisemitismus
sei ein Phänomen der
Reaktion, gehört nach wie vor zum Standard-Repertoire sowohl der
liberalen öffentlichen Meinung wie auch marxistischer
Glaubensbekenntnisse. Walter Boehlich hat mir kürzlich in einer
Diskussion entgegengehalten, es könnte schon deswegen keinen linken
Antisemitismus und keine linken Antisemiten geben, weil es keine in sich
geschlossene linke Antisemitismus-Theorie gäbe wie z.B. die Theorie von
der jüdischen Weltverschwörung, welche die Basis des rechten
Antisemitismus sei. Und Hermann Gremliza, Herausgeber der
sozialistischen Monatszeitschrift konkret, hat Anfang dieses Jahres in
seinem Blatt geschrieben, es sei eine "im Hause Springer erfundene
These, Kritik am Zionismus, Ablehnung der israelischen Politik und
Solidarität mit den Palästinensern seien die Fortsetzung der
nationalsozialistischen Judenverfolgung mit anderen Mitteln"; für
Gremliza, der an sich differenziert denken kann, genügt es, eine Sache
Springer in die Schuhe zu schieben, um sie für erledigt zu erklären.
Aber vielleicht hat er Sartre, Amery und Arendt bis heute nicht gelesen,
daß sie Angestellte des Hauses Springer gewesen sind, wird Gremliza
nicht behaupten wollen. Und geht es nur um so harmlose Bagatellen wie
Kritik am Zionismus und Ablehnung der israelischen Politik? Gremliza
bedient sich eines alten Tricks. Er dementiert, was nicht behauptet
wurde. Kritik am Zionismus ist so zulässig wie die an der freien und
sozialen Marktwirtschaft, Ablehnung der israelischen Politik so
berechtigt wie die jeder anderen Politik in jedem beliebigen Land. Die
antisemitische Virulenz der antizionistischen Maskerade fängt jenseits
solcher Vorbehalte an, die "Fortsetzung der nationalsozialistischen
Judenverfolgung mit anderen Mitteln" setzt woanders ein, zum Beispiel
bei dem von Gremliza im gleichen Zusammenhang formulierten Satz, Israel
sei "das staatsförmige Eingreifkommando der USA im Nahen Osten",
weswegen die Linke, "die sich ernst nimmt", einen solchen Staat nicht
verteidigen kann und wenn es dieselbe Linke ist, welche die staatliche
Souveränität Ugandas unter allen Umständen verteidigenswert findet; wenn
ein Sozialist wie Gremliza, im dialektischen Denken geübt, sagt, ein
Land sei "das staatsförmige Eingreifkommando der USA", dazu noch "ein
Außenposten der westlichen ausbeutenden Welt mitten in einem Teil
der ausgebeuteten",
dann sind das keine akademischen Feststellungen. Eine solche "Einschätzung
der Lage" enthält implizit den Vorschlag zu ihrer Veränderung: die
Liquidierung, um im militärischen Jargon zu bleiben, eben dieses
Eingreifkommandos, die Auflösung dieses Außenpostens der ausbeutenden
Welt mitten in der ausgebeuteten, als wäre es eine Aktiengesellschaft
nach der Art der United Fruit Company und nicht, immerhin, ein Land mit
vier Millionen Einwohnern, die vielleicht auch ein Wort über ihre
Staatsform und ihre politische Zukunft mitreden möchten, anstatt die
Entscheidung darüber einem Hamburger Salon-Sozialisten zu überlassen,
der von seinem Schreibtisch aus genau weiß, wie man den Nahost-Konflikt
lösen muß und was Sache ist in Nicaragua, auf den Malediven und in der
ganzen Welt. Und genau an dieser Stelle läßt sich außer postkolonialer
europäischer Anmaßung auch eine Analogie festmachen, die Gremliza
selber sicher gar nicht bewußt war, was aber nicht gegen die Analogie
spricht, sondern nur das Phänomen bestätigt, welches Amery den "ehrbaren
Antisemitismus" nannte. Waren die Juden in der
nationalsozialistischen Propaganda die Agenten der Wallstreet, das
Eingreifkommando der internationalen Finanzoligarchie auf deutschem
Boden, Ausbeuter und Parasiten, mitten unter den ausgebeuteten und
notleidenden Deutschen, und waren das lauter gute Gründe, um ihren
Einfluß und das hieß: sie selbst zu eliminieren, so wird dasselbe Bild
heute auf Israel übertragen, mit einer der Zeit angepaßten Terminologie,
aber mit derselben Zielvorstellung: Das Ding muß weg!
Diese Haltung, die,
ich wiederhole es, sich ihrer historischen Wurzeln vermutlich nicht
bewußt ist, wird zudem von einer Scheinheiligkeit flankiert, die auch
vor einer symbolischen Leichenschändung nicht zurückschreckt. "Die
bundesdeutsche Linke ist" schreibt Gremliza, "von ein paar Idioten
abgesehen, antifaschistisch und steht an der Seite der Opfer von
Auschwitz und Treblinka...". - Das ist es eben. Die bundesdeutsche Linke
ist nicht nur antifaschistisch, was bei Linken an sich so
selbstverständlich sein sollte, daß es nicht extra gesagt werden müßte,
sie ist auch nekrophil und steht an der Seite der Opfer von Auschwitz
und Treblinka, sie solidarisiert sich
mit den toten Juden,
um umso unbefangener auf die lebenden und überlebenden einschlagen zu
können. Wie drückt sich denn die Solidarität mit den Opfern von
Auschwitz und Treblinka konkret aus, die so schamlos zur Unterstreichung
der antifaschistischen Selbstdarstellung benutzt werden? Jean Amery spricht von einem "unreflektierten
Antisemitismus der Jungen", der "im Kleide des Antizionismus" ehrbar
wurde. Alain Finkielkraut beschreibt einen antisemitischen Typus, der
sich "mit der Energie der Unschuld engagiert", weil ihn keine Skrupeln
behindern und keine Erinnerung seinen Eifer dämpft. Auch Finkielkraut
hat keine Zweifel, daß der neue Antisemitismus im Gewande des
Antizionismus auftritt. "Der doktrinäre Antisemitismus", schreibt er, "hätte
kaum fortbestehen können, ohne sich einen neuen Namen zu geben, aber das
eben hat er getan, und diese Ersetzung des Juden durch den des Zionisten
ist mehr als nur ein rhetorischer Kunftgriff. Was sich darin anzeigt,
ist eine sehr bezeichnende Mutation des totalitären Denkens: heutzutage
werden keine Völker mehr verfolgt, sondern Ideologien, es gibt keine
Untermenschen mehr, sondern nur noch Handlanger des Imperialismus ..."
die dann eben als "staatsförmige Eingreifkommandos" oder "Außenposten
der ausbeutenden Welt" steckbrieflich ausgeschrieben werden. Ich habe an
einer anderen Stelle vom "Antisemitismus ohne Antisemiten" gesprochen,
womit ich das gleiche Phänomen wie Amery und Finkielkraut meinte. Nun wird man nicht so Antisemit,
wie man einem Verein beitritt oder ein Auto mietet. Niemand steht
morgens auf und beschließt: ab heute kann ich die Juden nicht ausstehen!
Andererseits kann man nicht annehmen, daß zugleich mit den erklärten,
offenen Antisemiten auch die dazugehörigen Ressentiments verschwunden
sind. Glaubt man der empirischen Sozialforschung, so hat etwa die Hälfte
der Bundesbürger mehr oder weniger stark ausgeprägte antisemitische
Empfindungen. Dies ist überhaupt kein Grund zur Panik, die Frage ist nur,
warum alle Linken geschlossen auf der anderen Seite des Zaunes siedeln
sollten, warum sie dermaßen davon überzeugt sind, ausgerechnet in dieser
Beziehung die besseren, anständigeren Menschen zu sein. Die Behauptung "Linke
Antisemiten gibt es nicht!" gehört in die Abteilung Mythen und Legenden,
ebenso wie die inzwischen durch die Praxis widerlegte Annahme, im
Sozialismus würde es weder Eigentumsdelikte noch Prostitution geben und
mit der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln würden
auch solche häßlichen Gefühle wie Eifersucht und Neid aus der Welt
verschwinden. Aber während in dieser Hinsicht inzwischen eine gewisse
Ernüchterung eingetreten ist und selbst die größten Idealisten bei der
Anpassung der Wirklichkeit an die Theorie versagen, kämpfen sie
verzweifelt um die Bewahrung der letzten Unschuld, deren Verlust sie
endgültig um den Anspruch moralischer Überlegenheit bringen würde. "Wir
sind keine Antisemiten", versichern sie, "wir sind doch Linke und
Internationalisten, wir kennen keine Rassen und schon gar nicht
Rassenunterschiede, wir haben nichts gegen die Juden, wir sind nur gegen
den Zionismus, weil er dem palästinensischen Volk das Recht auf
Selbstbestimmung verweigert. Wir sind die Erben der Aufklärung, Kinder
der Emanzipation, Träger des Sozialismus, wie können wir dann
Antisemiten sein?" Hier liegt ein weiteres sehr verbreitetes
Mißverständnis vor, das sich nur mit einem gediegenen Mangel
historischer Kenntnisse erklären läßt.
Zur
Geschichte des linken Antisemitismus Ich bin von den Veranstaltern
dieser Tagung gebeten worden, einiges zur Geschichte des linken
Antisemitismus zu sagen und, von aktuellen Beispielen ausgehend, die
Geschichte "nach hinten" zu verlängern. Nun ist die "Verlängerung der
Geschichte", wie ich inzwischen erfahren habe, ein in der Bundesrepublik
sehr beliebter Begriff geworden. Ich habe neulich in einem Aufsatz
gelesen, der Boden der deutschen Geschichte reiche bis nach Palästina.
Das hat mir sehr gut gefallen und jedesmal, wenn ich nach Bethlehem auf
den Markt zum Einkaufen fahre, denke ich mir, ich bewege mich auf dem
Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die Geschichte nach
hinten zu verlängern, also in die Richtung, aus der sie an sich zu uns
kommt, scheint mir ein gewagtes Unternehmen zu sein, das meine Kräfte
übersteigt. Ich möchte Ihnen statt dessen zwei Bücher empfehlen, welche
die Geschichte zwar nicht nach hinten verlängern, aber Vergessenes und
Verdrängtes wieder ins Bewußtsein zurückholen. Das eine Buch ist der 5.
Band der achtbändigen "Geschichte des Antisemitismus " von Leon Poliakov:
"Die Aufklärung und ihre judenfeindliche Tendenz"; darin begegnen uns
einige der größten Aufklärer als veritable Judenfresser, Voltaire zum
Beispiel. Er nannte die Juden "das abscheulichste Volk der Erde, dessen
Gesetze nicht ein einziges Wort über geistliches Leben und die
Unsterblichkeit der Seele aussagen...". - In Voltaires philosophischem
Wörterbuch ist der Artikel "Juif" der längste von allen. Darin werden
die Juden als ein "unwissendes und barbarisches Volk" beschrieben, "das
schon seit langer Zeit die schmutzigste Habsucht mit dem
verabscheuungswürdigsten Aberglauben und dem unüberwindlichsten Haß
gegenüber allen Völkern verbindet, die sie dulden und an denen sie sich
bereichern..." Diese, Sätze, um das Jahr 1740 geschrieben, hören sich
an, als stammten sie aus dem Stürmer, der sich zweihundert Jahre später
im gleichen Sinne äußerte. Voltaire hielt die Juden fernen
für eine "minderwertige Menschenart" und "die allergrößten Lumpen, die
jemals die Oberfläche der Erde besudelt haben"; während er noch immerhin
einschränkte "Man soll sie jedoch nicht verbrennen", sprach sich Kant,
der die Juden spöttisch "Palästiner" und eine "Nation von Betrügern"
nannte, für die "Euthanasie des Judentums" aus; sein Schüler Fichte
hielt ihre Ausweisung aus den deutschen Landen für die richtige Maßnahme:
"Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich kein anderes Mittel, als
ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken." Als
Alternative dazu schlug Fichte vor: "Ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu
sehe ich wenigstens keine Mittel als das: in einer Nacht ihnen alle
Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine
jüdische Idee steckt."
Natürlich waren
nicht alle Aufklärer Antisemiten und natürlich waren auch die
Antisemiten unter den Aufklärern dennoch große Denker. Die Schriften von
Voltaire, Kant und Fichte verlieren nicht dadurch an Wert, daß deren
Urheber die Juden nicht leiden
mochten. Nur: wenn
ein Voltaire die Juden für eine minderwertige Menschenart hielt, dann
hatte sein Urteil mehr Gewicht als die Meinung irgendeines unbedeutenden
Antisemiten. Und Kants Idee der Euthanasie des Judentums, schreibt
Poliakov, war nur "die metaphysische Form des Schreis "Tod den Juden!"
Der Antisemitismus der Nazis speiste sich aus vielen Quellen, von
der "minderwertigen Menschenart" zum Untermenschen ist nur ein kleiner
Schritt, die Nürnberger Gesetze hatten ein solides historisches
Fundament, zu dem auch etliche Aufklärer ein paar Bausteine beigetragen
haben. Soweit ist klär: eine im Prinzip fortschrittliche, der Aufklärung
dienende, an der Vernunft orientierte und um die Durchsetzung von
Menschenrechten bemühte Haltung schließt antisemitische Empfindungen
nicht von vornherein aus. Die Väter guter politischer und
philosophischer Ideen können zugleich Anhänger obskurer Vorurteile und
primitivster Ressentiments sein. Das eine geht mit dem anderen durchaus
Hand in Hand.
Was für einige
Aufklärer und Philosophen gilt, was uns von Luther und Wagner vertraut
ist, das gilt auch für eine Reihe bedeutender Frühsozialisten. Charles
Fourier, einer der Begründer
des französischen Sozialismus, war ein Antisemit, der die Juden
als Parasiten bezeichnete, deren Emanzipation der beschämendste aller
gesellschaftlichen Fehler gewesen ist. Alphonse Toussenel, ein anderer
Frühsozialist, veröffentlichte im Jahre 1845 ein Buch unter dem Titel
"Die Juden - Könige unserer Zeit", in dem er u.a. schrieb, Europa sei
der Herrschaft von Juden unterworfen. Pierre Leroux, der den Begriff
Sozialismus erfunden hat, Sozialist und zugleich gläubiger Christ,
bezeichnete die Juden als die Verkörperung des Mammon, er sah nur eine
Möglichkeit, das jüdische Problem zu lösen: alle Juden sollten zum
Christentum übertreten. Das war noch sehr human und gemäßigt verglichen
mit den Vorschlägen von Pierre Joseph Proudhon, der folgendes
geschrieben hat: "Diese Rasse vergiftet alles, indem sie sich überall
einmischt, ohne jemals Teil einer anderen Nation zu werden; man verlange
ihre Vertreibung aus Frankreich, mit Ausnahme jener, die französische
Frauen geheiratet haben; beseitige ihre
Synagogen,
verweigere, ihnen jede Art von Beschäftigung, betreibe endlich die
Abschaffung dieses Kultes... Der Jude ist der Feind der Menschheit. Man
muß diese Rasse nach Asien zurückschicken oder sie ausrotten... Was die
Menschen im Mittelalter instinktiv gehaßt haben, hasse ich aus Einsicht
und unwiderruflich...". Der russische Anarchist Michail
Bakunin haßte die Juden womöglich noch mehr als Proudhon. Er nannte sie
eine "ausbeuterische Sekte, ein blutsaugendes Volk, alles verschlingende
Parasiten, einander fest und innig verbunden...". - Es ist wichtig
festzuhalten, daß rechte Antisemiten und konservative Nationalisten wie
Heinrich von Treitschke, Adolf Stoecker oder Otto Boeckel, der Gründer
der antisemitischen Volkspartei, sich auf antisemitische Ideen stützen
konnten, die bereits von linken Denkern in Umlauf gebracht worden waren.
Dies ist jenen, die heute apodiktisch feststellen: "Linken
Antisemitismus gibt es nicht!" entweder nicht bekannt oder sie haben es
erfolgreich verdrängt. Der französische katholische Schriftsteller
Anatole Leroy-Beaulieu schreibt, Antisemitismus sei genauso eine Sache
der Snobs und besseren Leute wie der dummen Kerle, schon zur Zeit der
Jahrhundertwende habe der Antisemitismus seine Kraft und seine Fähigkeit
bewiesen, die Aristokratie und den Pöbel, den Geldadel und das Handwerk,
die Bauern und den verunsicherten Mittelstand in einer breiten
nationalen Front zusammenzubringen - gegen die angebliche Vorherrschaft
einer fremden Rasse. Wir haben es also hier mit jener
amalgamierenden Masse zu tun, von der ich schon am Anfang gesprochen
habe, einem Wundermittel, das die unterschiedlichsten Überzeugungen,
Temperamente und Charaktere unter einem Hut zu vereinigen vermag. Oder
wie es der amerikanische Satiriker Tom Lehrer sagt: "Die Katholiken
hassen die Protestanten und die Protestanten hassen die Katholiken und
die Moslems die Hindus - und alle hassen die Juden...". Ich werde auf
dieses einzigartige Phänomen einer naturwüchsigen Solidarität später
noch einmal genauer eingehen.
Das zweite Buch, das
ich Ihnen hier, zur Verlängerung der Geschichte nach hinten, empfehlen
möchte, ist für unsere Diskussion über linken Antisemitismus von noch
größerer Anschaulichkeit. Es heißt "Feindbild Jude", geschrieben wurde
es von Leopold Spira, dem Chefredakteur des Wiener Tagebuchs, einem
Juden und Altkommunisten, der 1971 aus der österreichischen KP
ausgeschlossen wurde. Auch in Österreich, so Spira, sei der
Antisemitismus keine nur auf die Nazi-Zeit beschränkte Verirrung gewesen,
jede politische Richtung habe "ihre spezielle Art des Antisemitismus
entwickelt" und es habe neben einer christlichen auch eine
sozialdemokratische Variante gegeben. "Der Antisemitismus", sagt Spira,
"war lange Zeit ein zentraler Punkt der innenpolitischen
Auseinandersetzung." Die österreichischen Parteien warfen sich
gegenseitig vor, sie seien verjudet, vom jüdischen Geld abhängig, würden
den Interessen der Juden dienen. Bei diesem nationalen Ringelpietz war
der Gegner immer jüdisch eingefärbt. "Für die Christsozialen war es der
parasitäre sozialdemokratische Bonze, für die Sozialdemokraten der das
Volk auspressende Bankier, für die Großdeutschen die sozialdemokratische
und liberale Presse, für die Kommunisten der Klassenverräter Otto Bauer,
für die Nazis die sozialistisch-kapitalistischen Volksverhetzer..." Die
sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung machte sich über die "Judennase"
des Prälaten und christsozialen Bundeskanzlers Ignaz Seipel lustig und
meinte, dessen Regierung, ein "Exekutivorgan der Bankjuden", würde von "jüdischen
Plutokraten" dirigiert. Und wenn die Arbeiter-Zeitung einen Witz machen
wollte, dann las sich das so: "Man darf hoffen, daß die jüdischen
Wahlgelder den antisemitischen Parteien unbeschnitten zufließen werden."
Damit waren Spender gemeint, die konservative Juden den Christsozialen
zukommen ließen, in der Terminologie der Arbeiter-Zeitung hießen die
einen Hakenkreuzler und die anderen Hakennäsler. Waren die Juden
für die eine Seite die "Träger, Verbreiter und Führer aller zersetzenden
Bestrebungen, die geborenen Vertreter der liberalen Weltanschauung, die
geborenen Freisinnigen, Fortschrittlichen, Revolutionäre", also eine
Gefahr für den Bestand des christlich-konservativen Abendlandes mit
allen seinen Werten, so waren sie für die andere Seite die geborenen
Repräsentanten der "Großbourgeoisie und der
Hochfinanz", Feinde des sozialen Fortschritts und Konterrevolutionäre
von Natur aus. So hatten die Juden zwei
Möglichkeiten, unter denen sie die Wahl treffen konnten: als
Revolutionäre, Freisinnige und Fortschrittliche den Zorn rechter
Antisemiten auf sich zu ziehen oder als Kapitalisten, Bankiers und
Plutokraten die Wut linker Antisemiten zu provozieren. In jedem Falle
ging es immer gegen die Juden, auch wenn es vordergründig gegen
Reaktionäre oder Revolutionäre ging. Mit etwas gutem Willen und ein
wenig Phantasie konnte hinter jeder mißliebigen Figur die krummnasige,
plattfüßige Gestalt des Juden ausgemacht werden, es gab keinen Umstand,
für den Juden nicht hätten verantwortlich gemacht werden können. Zitat:
"Die eigentlichen Träger des Antisemitismus, das kleine Gewerbe und der
kleine Grundbesitz, haben von ihrem Standpunkte aus nicht so Unrecht.
Ihnen tritt eben das Kapital hauptsächlich in der Gestalt des
Juden entgegen. In Hessen und anderen Teilen Südwestdeutschlands zum
Beispiel, wo ich die Verhältnisse kenne - da sind die Hypotheken in den
Händen der Juden und die Käufer agrarischer Produkte auf allen Märkten
sind Juden. Dadurch erscheinen alle schlimmen Wirkungen des Kapitalismus
den Leuten immer in der Gestalt des Juden, und da ist es ganz natürlich,
daß diese Schichten, die nicht gewohnt sind, viel über das
kapitalistische System zu grübeln, sondern sich an die Formen und
Erfahrungen halten, in denen es ihnen gegenübertritt, dem Antisemitismus
verfallen. Das Kleingewerbe wird wiederum sehr stark von der Konkurrenz
der jüdischen Handelsgeschäfte getroffen, so sind die Kleider-, die
Schuhwarenläden, die Läden mit Manufakturwaren fast ausschließlich in
den Händen der Juden und die Konkurrenz derselben ist für diese
Schichten erdrückend. Bei den Offizieren und Beamten liegen andere
Gründe vor. Ein großer Teil derselben macht Schulden und der Kreditgeber
ist wiederum sehr oft ein Jude. Daher ihr Haß gegen dieselben. Die
Studenten mögen wiederum die Juden nicht, einesteils weil sie nicht
selten ebenfalls im Schuldverhältnis zu ihnen stehen, andererseits weil
die Juden als Studierende oft fleißiger und als Rasse wohl auch
intelligenter sind. Da hängt also alles mit den ökonomischen Zuständen
mehr oder weniger zusammen." Das Zitat stammt von August
Bebel, dem Gründer der deutschen Sozialdemokratie. Bebel war mit
Sicherheit kein Antisemit, aber da nun mal alles mit den ökonomischen
Verhältnissen mehr oder weniger zusammenhängt, fielen ihm lauter
ökonomische Gründe für antisemitische Haltungen ein, womit er,
absichtlich oder nicht, diese Gründe sanktionierte, statt sie, wie man
heute sagen würde, kritisch zu hinterfragen. Typischerweise fiel ihm
kein einziges religiöses Motiv ein und hätte jemand gesagt, er hasse die
Juden, weil sie Christenkinder zu Pessach schlachten, um aus deren Blut
Matzen zu machen, hätte August Bebel sicher ganz entsetzt reagiert. Aber
daß Offiziere und Beamte Juden nicht mögen, weil sie bei ihnen in der
Kreide stehen, wird von Bebel offensichtlich als Grund anerkannt.
Vielleicht konnte es sich Bebel nicht vorstellen, daß die Offiziere und
die Beamten die Juden auch dann hassen würden, wenn sie bei ihnen nicht
verschuldet wären, daß sie einen anderen vernünftigen" Grund hätten,
wenn es diesen einen nicht gäbe. Was genauso auch für die kleinen
Gewerbetreibenden und die Grundbesitzer, die Bauern und die Studenten
und deren jeweilige Gründe gilt. "Es gab in der Sozialdemokratie",
schreibt Leopold Spira, "einen sozusagen 'volkstümlichen' Antisemitismus,
der ein Widerhall der in der Arbeiterschaft verbreiteten
intellektuellenfeindlichen Stimmung war. Es gab aber auch einen
besonderen, einen 'taktischen' Antisemitismus, der die antisemitischen
Angriffe auf die Arbeiterbewegung neutralisieren und gegen ihre Urheber
kehren sollte...".
Als Beispiel für
einen solchen "taktischen" Antisemitismus, der nichtsdestotrotz ein sehr
authentischer war, zitiert Spira einen Artikel aus der
sozialdemokratischen Wochenzeitung Volksblatt aus dem Jahre 1921, in
dem der Verfasser, jeden Verdacht des Antisemitismus weit von sich
weisend, Ahnen- und Familienforschung beim politischen Gegner betreibt
und dabei fündig wird: Wir brauchen nicht erst zu betonen, daß wir keine
Antisemiten sind, aber wir werden fort und fort namentlich auch von der
christsozialen Partei beschimpft, weil wir 'angeblich' jüdisch sind. Es
lohnt sich daher, auf die Verjudung der Christsozialen Partei
hinzuweisen. Dr. Kienböck, den die Christsozialen
zum Präsidenten der Republik ausersehen haben, stammt von einer
jüdischen Mutter. Die jetzige Vizepräsidentin der christsozialen Partei,
Dr. Hildegard Burian, die Führerin unserer frommen Frauen, stammt aus
der Judenfamilie Freud; sie hat erst mit 18 Jahren ihr Judentum
abgeschworen. In das Unterrichtsamt wurde vom christsozialen Minister
Breisky die Frau Dr. Maresch als Hüterin katholischer
Erziehungsgrundsätze berufen. Ein paar Tropfen Wasser, und aus der
polnischen Jüdin wird eine christsoziale Führerin. Diese Dr. Maresch ist
die polnische Jüdin Leontine Igel, vorgo Jesewitsch. Der christsoziale
Wiener Vizebürgermeister Dr. Prozer war der Sohn einer jüdischen Mutter,
der christsoziale Vizebürgermeister Hierhammer hatte eine Jüdin zur Frau
und der Jude Mandel war der vertraute Freund Luegers..." - Undsoweiter
bis zu der Feststellung, daß christsoziale Abgeordnete jüdischen
Schiebern Ein- und Ausfuhrgenehmigungen verschaffen. Nichts ist
komischer, als wenn Antisemiten andere Antisemiten als Judenknechte
entlarven. -
Der "taktische"
Antisemitismus, dem es vor allem auf eine Bloßstellung des Gegners ankam,
konnte schließlich mit jenem Antisemitismus nicht mithalten, der keine
taktischen Ziele verfolgte und ganz ungeniert aussprach, daß es ihm nur
um den Juden als solchen ging, wie dies zum Beispiel mit großer
Ehrlichkeit der Reichstagsabgeordnete Graf zu Reventlow im Jahre 1932
tat: "Bei der Ausscheidung der Juden aus dem deutschen Leben können
keine Ausnahmen gemacht werden, kann nicht zwischen 'anständigen' und 'unanständigen',
bösen und guten, artigen und unartigen Juden unterschieden werden. Wir
sind bereit, den Juden für einen Diamanten von unmeßbarem Wert zu
erklären, wir können ihn aber nicht ertragen, er zerreißt uns die
Eingeweide. Ganz zarten und alttestamentarisch frommen Seelen sind wir
auch gern bereit, folgendes zu sagen: Die Juden und das Jüdische sind
ungleich besser, höher und wertvoller als die Deutschen und das
Deutsche. Neben dem von seinem Gott auserwählten Gottesvolk und damit
göttlichen Volk fühlen wir minderwertigen Deutschen uns hoffnungslos
niedergedrückt. Ein solches Übermaß an Vollkommenheit und noch dazu in
unserer unmittelbaren Nähe ist unerträglich. So können wir nur im
tiefsten Gefühl unserer Minderwertigkeit sagen, daß so viel göttliches
Licht uns zu
sehr blendet. Man lasse uns Deutsche im bescheidenen Dunkel, das uns
zukommt oder wir müssen es uns selbst schaffen!" Damit möchte ich den kleinen
historischen Exkurs, die Verlängerung der Geschichte nach hinten,
abschließen und mich wieder aktuellen Beispielen zuwenden. - Das Dunkel,
nach dem der Graf zu Reventlow im Jahre 1932 rief und das wenig später
tatsächlich eintrat, hat bedauerlicherweise auch zur Folge gehabt, daß
dermaßen aufrichtige Antisemiten, wie er einer war, in der Finsternis
verschwunden sind. Was es heute gibt, sind Antisemiten, die a) entweder
nicht zugeben, daß sie es sind oder b) nicht wissen, daß sie es sind, in
dem Fall aber sich zu Leuten von der Art Reventlows verhalten wie ein
Automarder zu einem ehrlichen Safeknacker. Das heißt, es mangelt ihnen
nicht nur an Einsicht in das eigene Tun, sondern auch an Niveau.
Erlauben Sie mir, Ihnen eine kleine Auswahl von Beispielen aus meinem
Zettelkasten zu präsentieren.
Antisemitismus als naturwüchsige Solidarität aus Obsession
Vor zehn Jahren
erschien im Spiegel eine längere Glosse von Peter Brügge über die "Konsum-Spezialitäten
deutscher Eliten in Ost und West". Brügge machte sich auf eine
freundlich-harmlose Art über die Vorlieben der besseren Leute aus
Politik, Wirtschaft und Kultur für teure Kleidung, feines Essen und
bourgeoises Wohnen lustig. Einer, der in dem Artikel nicht vorkam, ein "schreibender
Kulturarbeiter", so seine Selbsteinschätzung, aus Hamburg, schrieb -
vermutlich aus Ärger, daß er nicht mal erwähnt wurde - in einer
Hamburger Monatszeitschrift eine Entgegnung aus der Sicht des
marxistischen Laienpredigers. Darin hieß es unter anderem: "Brügges
Artikel ist ein denunziatorischer Schmarrn, in seiner Vorurteile
zementierenden Langzeitwirkung kaum harmloser als ein Gaswagen in Polen
1943." - Jener schreibende Kulturarbeiter, Hermann P. Piwitt, weiß
natürlich genau, wozu im Jahre 1943 Gaswagen benutzt wurden. Er weiß
auch, daß, Brügges Artikel harmlos wie eine Knallerbse ist – und
trotzdem geniert er
sich nicht, einen solchen Vergleich zu gebrauchen. Warum tut er das? Um
die Gaswagen zu verharmlosen? Um Brügge zu einem potentiellen
Massenmörder zu stempeln? Aber wahrscheinlich sind solche Fragen falsch
gestellt, wir haben es hier vermutlich mit Obsessionen zu tun, die in
den Bereich der Psychopathologie fallen. Nachdem Piwitt einige
konsumphilosophische Erkenntnisse von atemberaubender Tiefe von sich
gegeben hat - zum Beispiel "Ein 2 CV ist zwar billig aber unsicher und
langsam, ein BMW ist zwar sicher, aber zu teuer und unnütz schnell..." -
kommt er aufs Essen und da auf eine Metapher, mit der er die Grenze von
Kulturarbeiter zum Poeten im Stechschritt passiert: "Ich kenne ein
Mädchen, für das sich beim Essen die Geister scheiden, die sinnlichen
von den unsinnlichen. Hat sie sich aber endlich in entsprechenden
Lokalen die ausgekochtesten Sachen auf den Teller gescheucht, verfällt
sie in ein Stimmungsgemisch von Geilheit und Überdruß und bewegt die
Finger so nervös und lustlos im Salat, als stünde sie vor dem Problem,
einem Rabbi die Vorhaut herunterzuziehen..." Derselbe Autor hat in einem
anderen Zusammenhang folgendes geschrieben: "Es gibt nichts
Heimatloseres, Entwurzelteres, Ahasverhafteres als das Kapital. Es hetzt
um den Globus auf der Suche nach Steueroasen, Niedriglohnländern und
Friedhofsklima für Investitionen, wo es sich an fremder Arbeit mästen
kann..."; der Autor dieser Sätze ist ein praktizierender Marxist. Er
müßte wissen, daß das Kapital, im Gegensatz zum Ahasver, dem ewigen
Juden, nicht planlos umherirrt, sondern auf sehr präzisen Wegen sich
bewegt. Aber genauso wie beim Gaswagen in Polen kommt es auch hier nicht
darauf an, daß der Vergleich stimmt, sondern nur auf den Duft, den die
Metapher verbreitet. Heimatloses, entwurzeltes, ahasverhaftes Kapital "hetzt"
um den Globus, "mästet" sich an fremder Arbeit - seht euch vor Leute,
der Jud geht um! Damit hat der Autor die kleine Stürmerprüfung mit
Auszeichnung bestanden. Es fehlt nur noch die damals gängige
Unterscheidung zwischen schaffendem (arischem) und raffendem (jüdischem)
Kapital. Natürlich ist dieser
Kulturarbeiter seinem subjektiven Selbstverständnis nach kein Antisemit.
Für seine einschlägigen Assoziationen von A wie Ahasver über R wie Rabbi
bis V wie Vorhaut gibt es in der klassischen antisemitischem Literatur
zahlreiche Analogien. Er würde bestreiten, sie zu kennen. Wir sollten es
ihm glauben. Umso erstaunlicher ist, mit was für einer intuitiven
Sicherheit er zu den richtigen Motiven greift. Keine Antisemitin, gemessen an
dem Grafen zu Reventlow, ist auch Susanne von Paczensky, eine bekannte
und angesehene Journalistin, die nach einem Besuch in Israel einer
Zeitschrift, die vor allem im grünen und alternativen Milieu ihre Leser
hat, ein Interview gibt, das unter der überschrift "Männer und Militär
prägen den Alltag der Frauen" erscheint. In diesem Interview wird sie
zur Lage der Frauen im allgemeinen und zur Stellung der Religion im
öffentlichen Leben im besonderen befragt. Sie sagt unter anderem, daß
"in den Städten am Wochenende der ganze Kraftverkehr verboten ist, es
fahren keine Busse, keine Autos, weil sie mit Steinen beworfen werden";
die Menschen würden gezwungen, zu Hause zu bleiben, statt "mit dem Auto
an den Strand zu fahren"; da "die jüdische Religion sehr frauenfeindlich
ist", "ekeln sich die Leute vor den Frauen", was unter anderem dazu
führt, daß Frauen "ständig als unrein gelten, wenn sie schwanger sind,
wenn sie geboren haben, wenn sie menstruieren, man darf sie nicht
berühren, und wer sie doch berührt, der macht sich strafbar"; dies,
räumt die Journalistin ein, "wird zwar nicht sehr oft vor Gericht
kommen", aber es ist herrschendes Gesetz, und gelegentlich kommt es doch
vor. Den Ehegesetzen entsprechend, "kann der Mann die Frau verstoßen";
und "wenn ein Mann stirbt und er keinen Sohn gezeugt hat, dann muß die
Frau den jüngeren Bruder heiraten, damit er das mit dem Zeugen weiter
probieren kann, man gibt die Frau wie ein Stück Vieh dem Bruder, damit
er das ordentlich verwaltet..."
Nachdem sie auch
noch die bislang unbekannt gebliebene Tatsache enthüllt hat, daß "in
einem der Kriege der letzten zehn Jahre eine ganze Menge Frauen gefallen
(sind)", was aber "verheimlicht
wurde und die
gefallenen Frauen unter den Helden und Märtyrern nicht mehr genannt
werden" und nachdem sie sich darüber beklagt hat, daß Frauen in der
Armee nicht lernen dürfen, wie man einen Panzer fährt und repariert,
kommt sie zu folgender Beurteilung der israelischen Gesellschaft: "Das
alte jüdische Ideal des Gelehrten, des Forschers und des weisen Mannes
ist ganz abgestorben oder wird höchstens noch von den orthodoxen
Rabbinern eingehalten", was eine erstaunliche Aussage ist, da diese
orthodoxen Rabbiner, von ihr eben noch als "sehr eng und sehr
frauenfeindlich" gescholten, doch dafür sorgen, daß eine Witwe "wie ein
Stück Vieh" dem Bruder des toten Ehemannes gegeben wird, "damit er das
ordentlich verwaltet", und den übrigen Israelis das Autofahren an den
Strand verbieten. Auf einmal sind das für sie die richtigen, die guten
Juden, die "alte jüdische Ideale" verkörpern, im Gegensatz zu dem
gewöhnlichen Israeli, "der nicht ein Mensch ist, der denkt, forscht und
schafft, sondern eben ein kriegerischer..." - Erstaunlicherweise ist der
Israeli, der nicht denkt, nicht forscht und nicht schafft, überhaupt
noch ein Mensch. Ich schrieb der Kollegin, die den
Lesern als eine Israel-Expertin vorgestellt wurde, einen Brief, in dem
ich sie um die Präzisierung einiger ihrer Angaben bat. Ich wollte wissen,
wo der "Kraftverkehr verboten" ist, so daß weder Busse noch Autos fahren,
ich fragte nach "einem der Kriege der letzten zehn Jahre", bei dem "eine
ganze Menge Frauen gefallen" sein sollen, da ich offenbar seit dem
Yom-Kippur-Krieg 1973 einige übersehen haben mußte; ich wollte wissen,
aufgrund welcher Gesetze ein Mann, der seine "unreine" Frau berührt, was
immer das bedeuten mag, sich "strafbar macht" und "vor Gericht" gebracht
wird; und ich bat um die Angabe eines einzigen ihr bekannt gewordenen
Falles, daß eine Witwe in Israel gezwungen wurde, den Bruder ihres toten
Mannes zu heiraten. Ich rechnete mit einer Antwort, in der die verehrte
Kollegin mir mitteilen würde, daß sie bedauerlicherweise einige
halachische Vorschriften mißverstanden und dazu mit staatlicher
Gesetzgebung verwechselt habe und daß etliche ihrer Beobachtungen auf
einen während des Israelbesuches erlittenen, inzwischen wieder
ausgeheilten Sonnenstich zurückzuführen seien. Die Antwort fiel ganz anders als
erwartet aus. Gleich im ersten Satz beschwerte sich Susanne von Paczenky
darüber, daß ich ihr "einen derart aggressiven Brief" geschrieben hatte:
Die Zeitung mit dem Interview ließ sie mich wissen, läge ihr nicht vor,
sie könne deswegen nicht sagen, "ob ich mich falsch ausgedrückt habe
oder falsch zitiert wurde"; bei ihrer Einschätzung der Frauenfrage in
Israel", schrieb sie, habe sie sich vor allem auf ein 1977 in New York
erschienenes Buch bezogen, mit dessen Autorin in Verbindung zu treten
sie mir für den Fall weiterer, Rückfragen empfahl. Das wars. Diese hübsche Miniatur macht mehr
deutlich als nur die Leichtfüßigkeit, mit der eine bekannte und als
kompetent geltende Journalistin ihre Leser in die Irre führt, junge
Leute übrigens, von denen angenommen werden kann, daß sie wenig bis gar
nichts über Juden und Judentum wissen und die ordentlich zu informieren
keine schlechte Idee wäre. Worauf es noch mehr ankommt, ist die Tatsache,
daß sie, mit der Pappnase einer Expertin versehen, Dinge verbreitet,
welche die Schwelle vom Unsinn zum Schwachsinn bereits überschritten
haben und die ins Unreine auch nur zu denken sie sich nicht trauen würde,
wenn sie über die Sowjetunion, Obervolta oder Costa Rica berichten würde.
Nur wenn es um Juden geht, tritt auch noch die größte Idiotie im Gewande
der Authentizität auf. So wie früher die Ritualmordlegenden umso eher
geglanbt wurden, je blutiger und grausamer sie waren, so werden noch
heute Geschichten um und über Juden um so bereitwilliger akzeptiert, je
absurder sie sind; und nicht diejenigen Experten, die solche
Absurditäten verbreiten, müssen deren Richtigkeit nachweisen, sondern es
liegt an den Juden, den Gegenbeweis zu führen, zu zeigen, daß sie nicht
schuldig sind; ob es nun um Ritualmorde an christlichen Kindern geht
oder das Schicksal der Witwen in Israel, die gezwungen werden, den
Schwager zu heiraten, "damit er das mit dem Zeugen weiter probieren kann".
Hier gibt es keinen Unterschied zwischen traditionellen Antisemiten und
Experten für Judenfragen der neuen Sorte, die, wie auch jene
Journalistin, mit alten Vorurteilen in neuer Verpackung zum Beispiel
"Die Juden und die Frauenfrage" behandeln. Ihrem Selbstverständnis nach
keine Antisemiten sind auch die Herausgeber des Grünen Kalenders. Das
Handbüchlein für Umweltfreunde und Naturschützer, auf umweltfreundliches
Recycling-Papier gedruckt, enthält neben Tips für Brennessel-Sammler und
politischen Parolen ("Keine Macht für niemand!") auch Beiträge zur
alternativen Bewußtseinshygiene, zum Beispiel das Kalenderblatt zu
Karfreitag: "Abgesehen davon, daß sie Jesus ans Kreuz nageln ließen,
haben sie seit Jahrhunderten Streit mit den Arabern verursacht... Viele
fragen sich, wann diese kriminelle Vereinigung Israel ausstirbt." - Am
Ende des Kalenders, zwischen Rezepten für Müsli und Fruchtschnitten,
gibt es eine kleine Abhandlung über "Israel, die Mörderbande": "Nachdem
wir im letzten Jahr bereits gefordert hatten 'Kauft nicht bei Juden',
weil der jüdische Unrechtsstaat eine aggressive Politik im Nahen Osten
betreibt, Kernkraftwerke bombardiert, fremdes Land besetzt, die dortigen
Einwohner mit seinem Militärterror schikaniert und ermordet, bereits
mehrfach von der UNO als unfriedliches Land verurteilt wurde, hat die 'Geldmafia
der Welt' erneut zugeschlagen. Jüdische Söldner bereiten die 'Endlösung
der Palästinafrage' vor... Meine Vorfahren haben sechs Millionen Juden
auf dem Gewissen, und mir ist es deswegen auch peinlich, Deutscher zu
sein. Angesichts der zionistischen Greueltaten verblassen jedoch die
Nazi-Greuel und die neonazistischen Schmierereien, und nicht nur ich
frage mich, wann den Juden ein Denkzettel verpaßt wird, der sie aufhören
läßt, ihre Mitmenschen zu ermorden..."
Die Forderung, den
Juden einen Denkzettel zu verpassen, "der sie aufhören läßt, ihre
Mitmenschen zu ermorden" ist nicht so schlimm wie der Umstand, daß sie
von den zahlreichen Benutzern des Grünen Kalenders, der bereits im 5.
Jahrgang erscheint, unwidersprochen hingenommen wird, ebenso
unwidersprochen wie schon im vorausgegangenen Jahr die Empfehlung, nicht
bei Juden zu kaufen. Keine historische Assoziation regt sich bei einem
solchen Satz, nichts rührt sich im alternativen Bewußtsein, das sonst
allzeit zur "Betroffenheit" neigt und mit dem Faschismus-Vorwurf schnell
zur Hand ist. Seltsam ist auch, daß ausgerechnet von grüner Seite die
Zerstörung eines Kernkraftwerks
in Israel zum Vorwurf gemacht wird, wo doch viele Grüne ganz große Augen
bekommen, wenn sie von den Jesuiten-Brüdern Berrigan hören, die mit
kleinen Hämmerchen auf Atomsprengköpfe losgegangen sind, was natürlich
nichts genutzt hat, aber dem alternativen Bedürfnis nach symbolischem
Heldentum entsprochen hat. Ende Juni 1983 strahlte der SWF
einen langen Dokumentarfilm über die Lage der Palästinenser in den von
Israel besetzten Gebieten aus. Der Film hieß: "Schalom oder wir haben
nichts zu verlieren" und begann mit einem 'historischen Stichwort', in
dem es unter anderem hieß: "Ein VoIksaufstand der Juden gegen die
römischen Besatzer im Jahre 70 nach Christi scheitert, der prachtvolle
Tempel in Jerusalem, das religiöse und kulturelle Zentrum der Juden,
wird von Römern zerstört. Der 2000jährige Leidensweg des
palästinensischen Volkes beginnt." - So stand es im Text, so ist es
gesendet worden. Mit der Zerstörung
des religiösen
und kulturellen Zentrums der Juden begann der 2000jährige Leidensweg
nicht des jüdischen, sondern des palästinensischen Volkes. Ich nahm in
diesem Fall an, der Redaktion sei einfach ein Fehler unterlaufen, der
Film handelte von Palästinensern und durch ein Versehen war im Vorspann
aus dem "jüdischen Volk", das nur gemeint sein konnte, das "palästinensische"
geworden. Ich schrieb dem SWF einen Brief mit der Bitte um Klarstellung
und bekam daraufhin die folgende Antwort: "In unseren Lexikons wird die
Trennung zwischen Juden und Palästinenser erst seit der Gründung des
israelischen Staates ausgewiesen. Es gibt prominente Juden, die sich
auch heute noch als Palästinenser bezeichnen. So war der Satz über den
2000jährigen Leidensweg des palästinensischen Volkes einzuordnen..." Ich
bedankte mich bei dem sachkundigen Redakteur für die Erklärung, daß erst
seit der Gründung des israelischen Staates zwischen Juden und
Palästinensern unterschieden wird, daß es also vom Jahre 70 nach bis zum
Jahre 1948 nur Palästinenser gab,und fragte nach, ob die "Stedtl"
genannten Siedlungen in Osteuropa palästinensische Niederlassungen
gewesen sind. Offenbar konnte der Redakteur darüber nichts in seinen
Lexikons finden, weswegen er mir nicht antwortete.
Subtiler
und impliziter Antisemitismus Nun werden Sie vielleicht sagen,
dies sei eine wenn auch unfreiwillig komische Geschichte, die einiges
über den Bildungsstand eines bundesdeutschen Fernsehredakteurs aussagt,
aber nicht unbedingt in die Abteilung "Antisemitismus" gehört. Dem würde
ich widersprechen. Aber es kommt in der Tat darauf an, wie man
Antisemitismus operational definiert, was man als Beleg seiner Existenz
annimmt. Margarete Mitscherlich zum Beispiel sieht Antisemitismus am
Werk, wenn jüdische Friedhöfe geschändet und Bomben in jüdische
Restaurants geworfen werden, in Fällen offener Gewaltanwendung also. Im
übrigen wundert sie sich: "Obwohl nur noch wenige Juden in Deutschland
leben, hat das den Antisemitismus bei uns nicht aussterben lassen",
dermaßen eine Korrelation zwischen der Anzahl der Juden und der Stärke
des Antisemitismus herstellend. Dies mag intentional keine
antisemitische Aussage sein, aber es ist mit Sicherheit eine, die den
Antisemitismus rechtfertigt, da sie implizit unterstellt, ein Rückgang
der Anzahl der Juden müßte einen Rückgang des Antisemitismus mit sich
bringen, was wiederum bedeutet: erst wenn es keine Juden mehr gibt,
gibts auch keinen Antisemitismus, was erstens nicht stimmt und zweitens
das Problem von der Seite der Antisemiten vollends auf die der Juden
verlagert. Nun halte ich Grabschändungen und Bombenattentate auf
Restaurants für keine zuverlässigen Indikatoren, mit denen man das
Vorhandensein eines antisemitischen Potentials messen könnte. Solche
Vandalenakte kommen erstens relativ selten vor und zweitens fällt es
niemanden schwer, sich davon zu distanzieren. Wer ist schon für
Grabschändungen? Daß aber eine Kulturredaktion die jüdische Geschichte
umschreibt, die Juden sozusagen enteignet und ihre Leidensgeschichte
einem anderen Volk übergibt, zumal einem, das es vor 2000 Jahren, als
diese Leidensgeschichte begann, noch nicht gab, dies halte ich für
signifikanter und gefährlicher, eine sehr subtile Form der Grabschändung,
für den Ausdruck eines, wie Amery sagen würde, ehrbaren Antisemitismus,
der sich treuherzig und medioker auf "unsere Lexikons" beruft. Hier
liegt nicht ein Fall ungenügender Kreuzworträtselbildung vor, sondern
die Absicht zu täuschen und das Unwissen des Publikums auszunutzen. Wenn
die Leidensgeschichte der Juden in Wirklichkeit eine der Palästinenser
war - wer ist dann bei Pogromen massakriert worden, wer mußte den
spitzen Hut und den gelben Stern tragen und wer wurde in Auschwitz
vergast ? Für die Bewertung des Verhaltens
einer Person ist es völlig belanglos, wie diese Person ihr Verhalten
selber beurteilt. Es mag Leute geben, die mit reinstem Gewissen
versichern, sie hätten Kinder gerne, nachdem sie eben eines zu Tode
geprügelt haben. Und der Vergewaltiger, der sich als Freund und Verehrer
von Frauen sieht, ist eine weit verbreitete Figur. Zudem gibt es eine
zunehmende Tendenz, das Vorhandensein von Antisemitismus generell zu
bestreiten oder bestimmte Gruppen a priori vom Antisemitismusverdacht
freizusprechen. Was Gerhard Zwerenz vor Jahren zugunsten der Linken
unternommen hat, hat Margarete Mitscherlich kürzlich mit den Frauen
gemacht. Sie hat einen Aufsatz veröffentlicht, in dem sie nachzuweisen
versucht, daß Antisemitismus "eine Männerkrankheit" ist, Frauen von
Natur aus keine Antisemiten sein können und wenn sie es doch sind, dann
nur, weil sie männliches Rollenverhalten nachmachen. Noch einen Schritt
weiter geht der deutsche Botschafter in Tel Aviv, der bei jeder sich
bietenden Gelegenheit versichert, daß es praktisch keinen Antisemitismus
in der Bundesrepublik gibt. Er belegt dies folgendermaßen: "Bei den
letzten Bundestagswahlen... ist es den Parteien der extremen Linken und
Rechten trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation nicht gelungen,
mehr als jeweils 0,2 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinen. Das kann
sich, glaube ich, sehen lassen. Ein Wiederaufleben
des
Antisemitismus ist damit kaum vereinbar..." Folgt man der Logik des
Botschafters, dann könnte man die empirische Sozialforschung ganz sein
lassen und sie durch das endgültig amtliche Wahlergebnis ersetzen. Nun
ist ein Botschafter sicher weder der Sozialforschung noch der Wahrheit,
sondern ausschließlich der Aufgabe verpflichtet, sein Land besonders
vorteilhaft darzustellen. Trotzdem bleibt das Argument, daß es in der
Bundesrepublik keinen Antisemitismus gibt, weil die links- oder
rechtsextremen Parteien im Parlament nicht vertreten sind, eine alberne
Augenwischerel. Genauso gut könnte man sagen, es gebe keinen
Alkoholismus und keine Fremdenfeindlichkeit, nur weil keine Partei der
Säufer und Türkenhasser im Bundestag sitzt. Ich habe den Botschafter, der
ein belesener und umgänglicher Mann ist, gefragt, ob es nicht etwas
leichtfertig wäre, das Ausmaß des Antisemitismus in der Bundesrepublik
an den Wahlergebnissen messen zu wollen und ihn auf einige empirische
Studien aufmerksam gemacht, die zu anderen Ergebnissen kommen, worauf er
mir antwortete: "Ich lasse mich auch durch die Sinus-Studie und die
Untersuchungen von Professor Silbermann nicht von meiner Überzeugung
abbringen, daß der Antisemitismus in Deutschland allenfalls marginal ist..."
- Man kann niemand seine Überzeugung, für die das Synonym-Lexikon auch
das Wort Glauben anbietet, übel nehmen. Es mag heute noch Menschen
geben, die davon
überzeugt sind, daß die Erde keine Kugel sondern eine flache Scheibe ist,
von der man herunterfallen kann, wobei dann vieles dafür spräche, daß
der Abgrund gleich hinter der Residenz des deutschen Botschafters in Tel
Aviv beginnt. Was schwerer wiegt als die Überzeugung des Botschafters,
wonach es keinen Antisemitismus in der Bundesrepublik gibt, ist die im
selben Zusammenhang folgende Bemerkung, auch "latenter Antigermanismus"
störe ihn nicht. Ich weiß nicht, was der
Botschafter unter "Antigermanismus" versteht; vielleicht mußten seine
Eltern einen braunen Stern trägen und durften sich nicht auf Parkbänke
setzen, auf denen "Nur für Nicht-Deutsche" geschrieben stand; vielleicht
hat er aus seiner Kindheit noch jenes schreckliche Bild in Erinnerung,
da ein seltsam aussehender Jude mit Streimel, Kaftan und Schläfenlocken
vor einem Geschäft Wache steht, auf dessen Schaufenster die Parole
gemalt wurde: "Juden wehrt euch - kauft nicht bei Deutschen!" Vielleicht
gab es in der jüngsten Vergangenheit ein Programm zur Endlösung der
Deutschenfrage, von dem ich nichts weiß und das den Botschafter
berechtigt, in Analogie zum Antisemitismus von Antigermanismus zu
sprechen und das eine ebenso gelassen hinzunehmen wie das andere zu
ignorieren. Die Literatur über Antisemitismus
könnte ganze Güterzüge füllen. Ich habe unter diesem Stichwort im
Katalog der Jerusalemer Universität nachgesehen und mehrere Schubkästen
mit einigen Tausend Karteikarten gefunden, worauf ich die Bibliothek
fluchtartig verlassen habe, aus Angst, wenn ich erstmal anfange, diese
Bestände durchzugehen, werde ich noch die Jahrtausendwende im Lesesaal
verbringen und dann erst beim Buchstaben K oder L angekommen sein. Nur
noch über den Sinn des Lebens ist noch mehr geschrieben worden. Die
Gelehrten streiten sich darüber, wie Antisemitismus entsteht, wie er
vermittelt, weitergereicht wird und vor allem: wie man ihm begegnen soll.
Ich halte dies alles
für vergebliche Trockenübungen von Akademikern, die das tun, was von
jeher ihre Sache ist: das Chaos und die Anarchie des wirklichen Lebens
in irgendwelche Formeln zu pressen, um auf diese Weise das Leben in den
Griff zubekommen - theoretisch zumindest. Der Antisemitismus entzieht
sich diesem Zugriff, er ist eine facettenreiche und widerspruchsvolle
Angelegenheit, ein vitales und paradoxes Phänomen zugleich. Wer den
Antisemitismus mit der christlichen Tradition erklären möchte, übersieht,
daß es Antisemitismus schon in vorchristlicher Zeit gab und daß er heute
in nicht- und auch anti-christlichen Gesellschaften verbreitet ist. Wer
den Antisemitismus für ein häßliches Kind des Kapitalismus hält,
will vermutlich nicht wahrhaben, daß er in sozialistischen Systemen
ebenso virulent ist. Wer den Antisemitismus mit Unwissen,
Rückständigkeit und Provinzialismus in Verbindung bringt, vergißt, daß
die sogenannten gebildeten Stände für den Antisemitismus genauso
anfällig sind wie das einfache Volk und daß es zum Beispiel im
rückständigen Bulgarien nie einen dermaßen entwickelten Antisemitismus
gegeben hat wie im fortschrittlichen Frankreich oder Deutschland. Luther
soll erst zum Antisemiten geworden sein, nachdem er erfahren mußte, daß
die Juden auch seine Form des Christentums nicht annehmen wollten; der
Antisemit Wagner zählte Juden zu seinen besten Freunden; und Gipfel der
Verwirrung und Beweis für die Universalität dieses
Ressentiments - es
gab und gibt Antisemiten, die selber Juden waren beziehungsweise sind:
Otto Weininger, Arthur Trebitsch, Karl Marx und Erich Fried. Außerdem:
der Antisemitismus hat nur bedingt etwas mit Juden zu tun, er kommt,
wenn es sein muß, auch ohne den Gegenstand seiner Obsession aus, wie zum
Beispiel im judenfreien Polen heutzutage. Er kann zu einer geschlossenen
Weltanschauung werden, wie im Dritten Reich, oder fall- und schubweise
auftreten, wie es heute geschieht. Was viele Juden in den Pausen
zwischen solchen Ausbrüchen zu der Illusion verführt, nun sei es mit dem
Antisemitismus aus und vorbei, bis sie vom nächsten Ausbruch eines
besseren belehrt werden. In einem Artikel für die
Zeitschrift Literary Review erklärte der englische Schriftsteller Road
Dahl, noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit habe es ein Volk
gegeben, das sich dermaßen schnell von Opfern zu Mördern gewandelt habe.
Auf diese Äußerung angesprochen, ging Dahl noch einen Schritt weiter und
präzisierte: "Es muß etwas im Charakter der Juden geben, was Haß
provoziert. Vielleicht ist es ihr Mangel an Umgangsformen gegenüber
Nicht-Juden. Nicht einmal Hitler hat sie grundlos verfolgt." Dahls plötzliches Coming-out
scheint die Richtigkeit einer unter Juden weit verbreiteten Überzeugung
zu bestätigen: Der Unterschied zwischen einem Antisemiten und einem
Nicht-Antisemiten liege darin, daß man bei einem Nicht-Antisemiten nur
etwas länger warten müsse, bis er sich auch als Antisemit herausstellt.
Bis zu jenem Artikel in der Literay Review im August 1983 und seiner
anschließenden Einlassung über den Charakter der Juden war Dahl als
Antisemit nicht aufgefallen. Niemand hätte den geringsten Anlaß gehabt,
ihn für einen Judenhasser zu halten. Andererseits kann ausgeschlossen
werden, daß er über Nacht zu seiner Meinung über die Juden gekommen war,
daß seine Äußerungen eine Laune des Augenblicks waren. Dermaßen
klassische antisemitische Stereotype entstehen im Bewußtsein dessen, der
sie ausspricht, nicht wie ein Instant-Pudding von jetzt auf gleich.
Der Libanon-Krieg
1982 als Katalysator Ein noch berühmterer
Schriftsteller als Dahl, Jean Genet, sah sich aufgrund des Verhaltens
von Juden genötigt, sein "mehrjähriges schriftstellerisches Schweigen"
zu brechen. Nach dem Massaker von Sabra und Schatila reiste er nach
Beirut. Das "Protokoll seines Lokalaugenscheins" erschien Anfang dieses
Jahres in einer Wiener Kulturzeitschrift, nach Angaben der Redaktion
handelt es sich um ein "poetisches Dokument von höchstem
zeitgeschichtlichem Wert". - In dieser Arbeit dokumentiert Genet
zuallererst seine poetische Beziehung zu Leichen. Mit großer Liebe zum
Detail beschreibt er den Zustand der schon zum Teil verwesten Körper,
die Farbe der Gesichter, das geronnene Blut, den Geruch. Vier
übereinander liegende Leichen machen auf ihn den Eindruck, "als wären
sie im Verwesen von erotischer Erregung befallen worden", selbst
zerstörte Gebäude wecken körperhafte Assoziationen, "die vielen
ausgeweideten Häuser, aus denen die Weichteile hervorquollen"; Genet
kann nicht anders, als "von einer Leiche zur anderen zu gehen",
fasziniert und gar nicht angewidert. Zwischendurch reflektiert er über
die Täter. "Es (Israel) tötet Menschen, es tötet Tote. Es macht Chatila
dem Boden gleich; auf dem bewirtschafteten Gebiet hat es seine Hände in
der Bodenspekulation, ein Quadratmeter noch verwüstetes Land kostet fünf
Millionen alte Francs. - Wieviel aber erst 'sauberes'? Eine scheußliche
weltliche Macht, in einem Maße als Kolonisator auftretend, wie es sonst
kaum mehr gewagt wird, ist zur letzten Instanz geworden, was sie ihrem
langen Unglück ebenso sehr wie ihrer Auserwähltheit verdankt..." In einem Interview, das dem
poetischen Dokument folgt, wird der Dichter von der Redaktion zu seiner
"Einschätzung der Lage" befragt. Er gibt an, von dem Massaker "fasziniert"
gewesen zu sein und erklärt genau, was ihn daran fasziniert hat. "Wenn
Araber oder auch Österreicher die Palästinenser brutal ermordet hätten,
hätte mich das nicht fasziniert. Aber wenn ein Volk das sich als Volk
der Märtyrer begreift, ein Volk, das von Deutschen, Franzosen und
Österreichern beinahe ausgelöscht worden: wäre, ein anderes, schwächeres
Volk niedermetzelt, dann bin ich fasziniert, das heißt, ich bin erstaunt..." Der Satz, auf den es hier vor
allem ankommt und den man sich merken sollte, lautet: "Ein Volk, das
sich als Volk der Märtyrer begreift, ein Volk, das beinahe ausgelöscht
worden wäre..." - Dies ist der Normalfall jüdischer Existenz, der
natürliche Gang der Dinge, Märtyrer sein und beinah ausgelöscht werden,
und Jean Genet will, daß es so bleibt. Mit Juden als Märtyrer würde er
sich solidarisieren - auch er steht an der Seite der Opfer von Auschwitz
und Treblinka - Juden als Täter hingegen, faszinieren ihn, provozieren
seinen Zorn. Wenn dagegen Araber andere
Araber massakrieren, dann ist das business as usual und Jean Genet hat
keinen Grund, fasziniert zu sein. Dies erklärt auch, warum Jean Genet
seine Stimme nicht erhob, als im Schwarzen September 1970 die
jordanische Armee tausende von Palästinensern niedermetzelte. Er hielt
still, obwohl er zu jener Zeit in Jordanien bei den Palästinensern war
und dort, wie er sich nun in seinem poetischen Dokument erinnert, "Die
eindringliche Klarheit der Beziehungen nicht nur der Fedayin
untereinander, sondern auch zwischen ihnen und ihren Führern bewunderte".
Auch Genets Bereitschaft, sich zu empören, hängt davon ab, daß es Juden
sein müssen, die den Anlaß für die Empörung bieten. Auf die Frage des
Interviewers "Könnte man sagen, die Palästinenser sind die Juden von
heute?" antwortet Genet: "Ja, heute sind die Palästinenser das Volk der
Märtyrer und die Juden sind das Nazi-Volk." Die Faszination, der Dahl und
Genet erlegen waren und die Einsichten, die sich ihnen aufdrängten -
nicht einmal Hitler hat die Juden grundlos verfolgt, die Juden sind das
Nazi-Volk von heute - wurden auch von vielen dem fortschrittlichen Lager
in der Bundesrepublik zugehörenden Menschen geteilt. Dahl und Genet sind
nur zwei prominente Beispiele von exemplarischer Klarheit für eine Art
von Mutation, die selbst bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde nicht hätte schöner
ausfallen können. Israels Libanon-Krieg erwies sich als der große
Katalysator, die Schnellwäsche, die aus jedem verschämten Antisemiten
wieder einen unverschämten machte. Wer seit jeher etwas gegen die Juden
hatte, sich aber nicht traute, es laut zu sagen, konnte aus diesem
Tauchbad mit sauberer Weste reinem Herzen und vollem Mund wieder
auftauchen. Ich werde, wie es seitdem Mode geworden ist, nicht erst eine
lange Distanzierungserklärung von Israel abgeben, um mir damit das Recht
zu erkaufen, Israels Kritiker kritisieren zu dürfen. Es reicht, wenn ich
sage, daß die völlige Ablehnung dieses Krieges eine Sache ist und die
Motive jener, die auf einmal ihr Herz für die Palästinenser entdeckten,
eine andere. Die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Lenelotte von Bothmer
sah "eine schreckliche Parallele: so wie die Juden bei uns verfolgt
worden sind, ermordet worden sind - aus keinem anderen Grund als dem,
daß sie Juden waren - so werden jetzt die Palästinenser von den Israelis
verfolgt und ermordet..." Frau von Bothmer schlug als Maßnahme den "Stopp
jeder Wiedergutmachungsleistung" vor, die jetzt "an die Palästinenser
und an die unschuldigen Libanesen" gezahlt werden sollte.
So klang es
allerorten. Bei einer Demonstration in Bremen war auf einem der
Transparente zu lesen: "Das sind die Juden: mal Opfer und mal Henker";
riefen die Demonstranten zu Anfang der Kundgebung noch "Juden raus aus
dem Libanon!" - In Frankfurt, Köln, München, Hamburg, Berlin, Bonn,
Stuttgart, aber auch in zahllosen kleineren Städten, fanden Protest-Kundgebungen
statt, die von ganz breiten Koalitionen getragen werden, von den Grünen,
über die Jusos bis zur DKP und Sponti-Gruppen, Bündnisse also, die sonst
nie zustande kommen. Der Tenor dieser Kundgebungen war überall der
gleiche: Völkermord, Endlösung der Palästinenser-Frage durch den
Judenstaat. Die taz sprach von einem "umgekehrten Holocaust", von
"blinder Mordlust, die Millionen von Israelis das gutheißen läßt",
wogegen es nur ein Mittel gibt: "Das einzige, was die Israelis am
Weitermorden hindern kann, sind israelische Opfer." In der taz
erschienen Leserbriefe, die von der Nationalzeitung nicht gedruckt
worden wären. In einem hieß es unter anderem: "Die Deutschen haben die
Juden vernichtet - übrigens zwei Millionen und nicht sechs - die
Israelis vernichten etappenweise die Palästinenser... Wann sagt endlich
mal jemand offen, daß das nichts ist als jüdischer Faschismus,
Massenmord für ein 'Großreich'... Die gleiche Handschrift, das Drehbuch
für den Staat Israel steht in 'Mein
Kampf'. Seit heute mittag schießen die Juden mal wieder 'zurück'. Wie
Hitler auf die Polen. Hitler marschierte im Sudetenland ein und Begin im
Libanon. Da wird die Frage aufgeworfen, wie das kleine Israel diesen
Krieg überhaupt führen kann. Nach dem Krieg forderten die Juden 6
Millionen Mark Reparationen. Inzwischen erhielten sie über siebzig. Die
BRD bezahlte den Krieg, die USA liefert die Waffen und die UdSSR die
Soldaten 'heim ins Reich' der Faschisten, die keiner so zu nennen wagt..."
- gezeichnet Harald. Und als die taz mal einen differenzierten Artikel
über den Nahost-Konflikt abdruckte ("Das Recht zweier Völker"), wurde
die Wohnung des zuständigen Redakteurs Johann Legner verwüstet. Eine "antifaschistische
Aktionsgruppe" übernahm dafür die Verantwortung, nachdem sie in den
Hausflur vor Legners Wohnung folgende Aufforderung an die Wand gemalt
hatte: "Liebe Hausbewohner! Hier lebt ein Zionisten- und
Faschistenschwein unter ihnen! Schmeißt ihn raus!" Da die
antifaschistische Aktionsgruppe für den "Sieg im Volkskrieg" und die "palästinensische
Revolution" von Berlin aus kämpft, muß sie sich um solche Bagatellen wie
die Grammatik der deutschen Sprache nicht sorgen. Daß es im Zusammenhang
mit dem Zionistenschwein "Schmeißt es raus!" heißen müßte und
nicht "Schmeißt ihn raus!", weil auch ein Zionistenschwein
sächlichen Geschlechts ist, verdient nur am Rande Beachtung.
Bemerkenswerter ist, daß die gute alte Judensau, wie wir sie aus dem
Stürmer kennen, uns bei der antifaschistischen Aktionsgruppe als
Zionistenschwein Auferstehung feiert.
Neudeutscher Größenwahn Eine
der absurdesten Aktionen, sozusagen die Dokumentation eines
Verantwortungsimperialismus, den man auch neudeutschen Größenwahn in
einer Nußschale nennen könnte, war ein "Aufruf für den israelischen
Rückzug aus dem Libanon", den rund 150 "Wissenschaftler, Theologen,
Journalisten und Politiker" als Anzeige in der FAZ, der Süddeutschen
Zeitung, der Zeit und auch der Jerusalem Post veröffentlichten. Die
Inserenten, die sich nach eigenen Angaben "seit Jahren mit den Problemen
der Aufrechterhaltung eines israelisch-arabischen Dialogs und den
Bedingungen für einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten beschäftigen",
forderten die "israelische Regierung zum sofortigen Rückzug ihrer
Truppen auf". Zugleich versicherten sie: "Wir bekennen uns zur
historischen Verantwortung der Deutschen gegenüber den Juden", was
sicher freundlich gemeint war, aber angesichts der deutsch-jüdischen
Geschichte wie eine Drohung verstanden werden muß.
Die für ihre
Borniertheit bekannte israelische Regierung verschloß sich diesem Aufruf,
er verhallte ungehört. Statt dessen zog die Liste der Unterzeichner in
Israel einige Aufmerksamkeit auf sich. Da sah man nicht nur jene, die
ihren Namen unter jeden Aufruf setzen - obs nun um die Nachrüstung, das
Waldsterben oder den Nahen Osten geht, sondern auch ein paar Namen, die
man bis dato in so trauter Übereinstimmung nicht beieinander finden
konnte. Neben dem Altliberalen William Borm, dem Altsozialisten Heinz
Brandt und dem Altmoralisten Helmut Gollwitzer waren auch Jörg Kudlich,
der Bundesvorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Lenelotte
von Bothmer, die sich eben für einen Stopp der
Wiedergutmachtungszahlungen ausgesprochen hatte, der liberale
Geschäftsmann Jürgen Möllemann, der Berufsfeinschmecker Gert von
Paczensky und der ehemalige Hitlerjugend-Führer, Waffen-SS-Kämpfer und
Ex-FDP-Abgeordnete Siegfried Zoglmann mit von der Partie. Und mitten
drin in dieser bunten Blase mein Freund Klaus Thüsing, damals noch-SPD-Bundestagsabgeordneter.
Daß Thüsing sich seit Jahren mit den Bedingungen für einen Frieden im
Nahen Osten beschäftigt, wußte ich, aber was tat er auf einer Liste mit
einer so obskuren Figur wie Siegfried Zoglmann, einer Polit-Mumie, von
der man seit Jahren nichts gehört hatte und die extra für diesen Aufruf
aus der Versenkung wieder aufgetaucht war? Haben Thüsing und Zoglmann,
deren Namen für die Bandbreite dieses Aufrufs stehe, jemals einen Appell
gemeinsam unterzeichnet? Könnten sie sich einig werden über den
sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, den amerikanischen in Grenada,
den chinesischen in Vietnam und den argentinischen beziehungsweise
britischen auf den Falkland-Inseln? Bis dahin war auch nicht bekannt,
daß sich der Vorsitzende der
Sudetendeutschen
Landsmannschaft mit der Aufrechterhaltung eines israelisch-arabischen-Dialogs
beschäftigen würde und daß Jürgen Möllemann auch an israelischen
Unternehmen beteiligt war, weswegen ihn die Sorge um einen dauerhaften
Frieden im Nahen Osten nicht zur Ruhe kommen ließ. Dieser Aufruf, in all seiner
gigantischen Lächerlichkeit, war eine Demonstration der Einigkeit; der
Anlaß, der Krieg im Libanon, nur Mittel zum Zweck. Menschen, die sonst
die Straßenseite wechseln, wenn sie einander in der Fußgängerzone
begegnen, konnten wenigstens einmal Gräben und Abgründe überbrücken und
einen gemeinsamen Nenner finden, auf dem sich die Idee der
Volksgemeinschaft zelebrieren ließ. So wie die untereinander total
verkrachten Angehörigen einer Familie manchmal einen gemeinsamen Feind
brauchen, mit dessen Hilfe sie, wenn auch kurzfristig, ihre Differenzen
vergessen können, so durften die Unterzeichner dieses Appells jenes
angenehme Gefühl des Gleichklangs der Seelen genießen, das bei
einfacheren Gemütern durch Marschmusik und Schunkellieder zustande kommt. Die Fähigkeit des Antisemitismus,
wie sie schon von Anatole Leroy-Beaulieu beschrieben wurde, die
Aristokratie und den Pöbel, den Geldadel und das Handwerk, die Bauern
und den Mittelstand zusammenbringen, hatte sich wieder, wenn auch mit
anderer Besetzung, als ein funktionierender Universalkleber erwiesen. Ein letztes Beispiel: Am 21.
August 1982 fand in Frankfurt eine Libanon-Demo statt und auf dieser
Demo hielt Brigitte Heinrich eine Rede, die sie, wie zum Beweis des
Gegenteils, mit den Sätzen begann: "Diese Demonstration richtet sich
nicht gegen Juden und jüdische Einrichtungen in dieser Stadt und in der
Bundesrepublik. Diese Demonstration richtet sich gegen den Krieg des
Staates Israel im Libanon, gegen die Vernichtung des palästinensischen
und libanesischen Widerstandes und gegen den Mord an der
palästinensischen und libanesischen Zivilbevölkerung. Diese
Demonstration richtet sich gegen den Zionismus und den von ihm
betriebenen Völkermord..." Nachdem Sie ihre Ablehnung "jeder
Form des Antisemitismus, des Rassismus und der Ansländerfeindlichkeit"
erklärt hatte, fuhr Frau Heinrich fort: "Wir lassen uns nicht einreden,
was da von internationaler Mediengewalt verkündet wird: 'Wer die Politik
Israels nicht akzeptiert, betreibt Antisemitismus in der Tradition des
Nationalsozialismus'. Wir sagen dagegen: 'Wer zu dem, was im Libanon
geschieht, schweigt, hat aus Auschwitz nichts gelernt'." Außerdem
versicherte sie mehrmals Antizionismus sei etwas völlig anderes als
Antisemitismus. "Genauso sind Zionismus und Judentum nicht dasselbe. Das
Judentum ist eine der ältesten Religionen, die Logik des Zionismus - die
Staatsdoktrin Israels - ist dagegen der permanente Krieg, sein erklärtes
Ziel die Vertreibung des palästinensischen Volkes und die Schaffung
eines Groß-Israels vom Nil bis zum Euphrat..." Frau Heinrich wies auf die
deutsche Mitverantwortung für das Schicksal des palästinensischen Volkes
hin, da "die Vertreibung der Palästinenser auch indirekte Folge der
Judenverfolgung in Deutschland" ist und schaffte noch eine andere
Verbindung zwischen deutscher Geschichte und israelischer Politik:
"Grade weil wir die moralische Schuld unseres Volkes am millionenfachen
Judenmord nicht zurückweisen, können wir zum Aggressionskrieg Israels
gegen das palästinensische Volk im Libanon nicht schweigen..." "Der ehrbare Antisemit", sagt
Jean Amery, "hat ein beneidenswert reines Gewissen, ein meeresstilles
Gemüt." Und der Germanist Hans Mayer schreibt "Wer den Zionismus
angreift, aber beileibe nichts gegen die Juden sagen möchte, macht sich
oder anderen etwas vor. Der Staat Israel ist ein Judenstaat. Wer ihn
zerstören möchte, erklärtermaßen oder durch eine Politik, die nichts
anderes bewirken kann als solche Vernichtung, betreibt den Judenhaß von
einst und von jeher ..."
Der Prototyp des
ehrbaren Antisemiten hat nicht nur ein reines, sondern - um Erhard
Eppler zu zitieren - ein pathologisch gutes Gewissen. Bis zu ihrer Rede
am 21. August 1982 war Brigitte Heinrich als Expertin für die Geschichte
des Zionismus und
das Wesen der
jüdischen Religion nicht in Erscheinung getreten. Es muß sich aber bei
ihr um eine Kapazität auf diesem Gebiet handeln, wie sonst könnte sie
behaupten, das Ziel des Zionismus sei die Schaffung eines Groß-Israel
vom Nil bis zum Euphrat - ich empfehle einen Blick auf die Landkarte -
ohne für diese Behauptung einen Beleg anzuführen. Da sie nicht in den
Verdacht geraten möchte, aus Auschwitz nichts gelernt zu haben, kann sie
zu Libanon nicht schweigen. Es scheint, daß ein Leichenberg im Rücken
die besondere Qualifikation verleiht, moralische Urteile zu fällen, oder,
wie Wolfgang Pohrt es spöttisch formuliert: "Der Massenmord an Millionen
Juden verpflichtete Deutschland dazu, Israel mit Lob und Tadel als
Bewährungshelfer beizustehen, damit das Opfer nicht rückfällig werde..."
Antisemitismus als Projektion der eigenen Geschichte auf deren Opfer
Abgesehen davon, daß
Frau Heinrichs seltsame Logik an jenen Bankrotteur erinnert, der sich
auf seinen betrügerischen Konkurs beruft, damit man ihm seine Befähigung
zum Buchprüfer abnimmt, abgesehen von dieser kafkaesken Verdrehung der
Lage, die erstaunlicherweise vom Publikum mit zustimmendem Kopfnicken
quittiert wird, von all dem mal abgesehen: Die nun protestieren, haben
zu dem, was im Libanon geschieht, geschwiegen, lange und vernehmlich.
Als Israel im Libanon einmarschierte, dauerte der Krieg dort bereits
sieben Jahre und hatte einige zehntausend Menschen das Leben gekostet,
was für die vorhin erwähnten "Wissenschaftler, Theologen, Journalisten
und Politiker", von Altvater, Elmar, bis Zoglnann, Siegfried, wie für
Frau Heinrich mitnichten ein Grund war, sich auf die Lehren von
Auschwitz zu besinnen und gegen das Blutvergießen zu protestieren. Sie
haben zu dem Massaker von Tel Zataar (Christen an Moslems) ebenso
geschwiegen wie zu dem von Damour (Moslems an Christen), ihnen fiel auch
zu der Zerstörung der syrischen Stadt Hama im Februar 1982 durch die
Truppen des Präsidenten Assad nichts ein, wobei nach Angaben von amnesty
international zehn bis zwanzig Tausend Menschen niedergemetzelt
worden sind. Sie haben bis heute auf keiner Kundgebung gegen den Krieg
zwischen dem Iran und dem Irak gesprochen, der inzwischen vier Jahre
dauert und einige hundertausend Opfer forderte. Sie haben sich über die
iranischen Kinderbrigaden nicht echauffiert und auch nicht über die
irakischen Giftgaseinsätze. Warum? Gelten die Lehren aus Auschwitz nur
für jene, denen Auschwitz gegolten hat? Frau Heinrich, die hier pars pro
toto steht, ist nicht deswegen eine Antisemitin, weil sie Israel
kritisiert, weil sie den Krieg im Libanon verurteilt. Sie ist deswegen
eine Antisemitin, weil von Juden begangene Taten und Untaten bei ihr
einen Reflex auslösen, der sich bei anderen Übeltätern nicht einstellt.
Ebenso wie Jean Genet, dem wir für seine Aufrichtigkeit dankbar sein
müssen, war sie und mit ihr all die anderen falschen Freunde der
Palästinenser von Gewalttaten, die Araber an Araber begehen, nicht
fasziniert, nicht betroffen, wie man hierzulande zu sagen pflegt. Die
Faszination und die Betroffenheit, mit der Assoziation zu Auschwitz,
stellten sich erst in dem Moment ein, da Juden (Zionisten) als Täter
fixiert werden konnten. Die große Entlastungsoffensive, die Projektion
der eigenen kriminellen Geschichte auf deren Opfer, konnte beginnen. An
diesem nationalen Gemeinschaftswerk nahmen linke wie rechte Antisemiten
einvernehmlich und kooperativ teil. Gibt es linken Antisemitismus ? Die Frage ist erstens eine
rhetorische und zweitens falsch gestellt. Warum sollte es keinen linken
Antisemitismus geben? Nicht seine Existenz ist erstaunlich, sondern der
Umstand, daß sie so beharrlich geleugnet wird.
Henryk M. Broder (freier Publizist, Jerusalem)
|