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Das Einfache des Staates

Abschied von Johannes Agnoli

 

e pentersi e cognoscer chiaremente

che quanto piace al mondo è breve sogno

Petrarca, zit. in Machiavellis “Esortazione alla penitenza”

 

und Reue und die klare Erkenntnis,

daß alles, was auf der Welt gefällt, ein kurzer Traum ist

 

Johannes Agnoli, unser Genosse und Lehrer, ist tot, gestorben am 4. Mai auf seinem Weinberg in San Quirico di Moriano, unweit Lucca, im 79. Jahr. Als er das Haus nach dem „Deutschen Herbst” erwarb, dachte er bestimmt nicht nur daran, nach der Mescalero-Affäre dem deutschen System der präventiven Konterrevolution entfliehen oder später, nach der Emeritierung 1990, den sibirischen Wintern Berlins ausweichen zu können. Er zog in die Toskana, ins Umland von Florenz, und damit an den Ort, an dem Niccolò Machiavelli die Staatsräson in Theorie und Praxis zur Wissenschaft der bürgerlichen Revolution erhoben hatte. Er zog auf einen Berg, ähnlich dem, den Machiavelli nach der Reaktion der Medici in Albergaccio bezog, dem Ort seiner Verbannung: entrückt zwar und dem Tagesgeschehen enthoben, aber so wenig aus der Welt, daß der Berg vielmehr Perspektive und die Weite des Horizonts schenkte, und so energisch in der Welt wie Machiavelli, den Ackerbau und Viehzucht nicht daran hinderten, „Il Principe“ zu schreiben und damit das wohl verhaßteste, weil unerbittlich und bis zur Grausamkeit wahrhaftige Lehrbuch der angewandten Politikwissenschaft.

Der Politik metaphysisch den Schleier zu weben und der kapitalen Souveränität die historische Mission von Gewaltenteilung und Recht, von Moral, Ethik, Fortschritt und Menschenrecht anzudichten, war Machiavellis Sache sowenig wie die Johannes Agnolis, seines materialistischen Sympathisanten. Wer nicht überall Philosoph sein kann, der ist nirgends Philosoph; wer nur im Hörsaal philosophieren kann, der kann es gar nicht: Was Johannes Agnoli mit Machiavell verband, war die Kunst, die konkrete Totalität der Gesellschaft im kleinen zu ergreifen und jedes Publikum der Aufklärung wert zu halten: Wie Machiavellis luzideste Traktate nebenbei hingeworfene Gelegenheitsschriften sind, so entstanden Johannes Agnolis Arbeiten nicht im Auftrag ideologischer Staatsapparate oder sog. „Forschungsprojekte“, sondern im Labor subversiver oder subversiv genutzter Öffentlichkeit – eine seiner letzten Schriften, die „Vorträge über den deutschen Idealismus“, enthalten im sechsten Band seiner Gesammelten Schriften, sind Vorlesungen vor Abiturienten der Provinz Lucca, und wer die bibliographischen Nachweise seines Buches „1968 und die Folgen“ studiert, findet vor allem sinistre Druckorte wie „Neue Kritik“, „PL. Zentralorgan der Proletarischen Linken“, „Schwarzer Faden“, „Arbeiterkampf“, „Berliner Extra-Dienst“ oder „l’emigrante in lotta“, neuerdings auch „jungle World“.

Es ist die Qualität dieser Intervention, die besticht, die Absenz jedweden akademischen Geraunes und Gehabes, seine Gabe, „die Sache selbst“ nicht zu dozieren und nicht zu dekretieren, sondern in Rede und Widerrede zu entfalten, d.h. die Kunst der sokratischen Methode, die unterstellt, daß alle nach Maßgabe ihrer Teilhabe an der Gattung wie nach dem Kriterium dessen, daß sie Subsistenz nur durch den Zwangscharakter gesellschaftlicher Reproduktion hindurch gewinnen können, längst alles das wissen, was sie nur noch begreifen müssen, um es tatsächlich und in aller Konsequenz zu wissen. Es war dies nach Form und Inhalt das Gegenteil von autoritärer Wissenschaft: subversive Aufklärung, damit zugleich antiautoritäre Rettung der Kritik der reinen (und der praktischen) Vernunft wie Bewahrung des materialistischen Moments in Marx vor den Systemarchitekturen der diversen Marxismen. Nach Temperament wie Einsicht war das Fugendichte, Widerspruchsfreie, Systematische nicht Johannes Agnolis Sache; die einzige Einheit und Synthesis, die er gelten ließ, war eben die Einheit des Vielen ohne Zwang, die freie Assoziation, die aus der Negativität und dem „negativen Potential“ der Gattung selbst erwächst, oder, wie es in einer Notiz „Über die politische Sprengkraft des Zweifels“ von 1980 heißt, „das organisierte Nein“ und das Denken gegen das System, das nicht in die Falle des Relativismus tappt und seiner Wahrheitsfähigkeit entsagt.

Daß sich Johannes Agnoli nicht mehr derart intensiv, wie er sich der Geschichtsphilosophie der frühbürgerlichen Aufklärung Gianbattista Vicos – „Der Mensch begreift das, was er machen kann“ – zugewandt hatte, mit Niccolò Machiavelli beschäftigen konnte, ist sehr traurig. Aber der Mangel ist doch insofern zu beheben, als es eben der Philosoph des „Principe“ ist, dessen unendlich geduldige Lakonie in Johannes Agnolis Kunst der ironischen Sentenz nachhallt. Seine Bücher, samt und sonders Waffen der Kritik, sind zugleich Arsenale des Aphorismus, von einer Qualität, daß er in der Hitze des Disputs oft selbst nicht mehr wußte, wer der Urheber war. Ob diese Sentenz gegen die positivistische Wissenschaft – „Er weiß wirklich alles, schade, daß er sonst nichts weiß!“ – von Johannes Agnoli stammt und gegen Jürgen Habermas geht, oder, wie es sich tatsächlich verhält, von Machiavell und gegen eine vielschreibende Plage der Universität von Florenz, ist auf Anhieb unmöglich zu entscheiden.

Es war dies nicht nur Temperament in Johannes Agnoli, nicht allein Leidenschaft. Praktiker der Aufklärung, waren ihm Agitation und Propaganda fremd. Mit Immanuel Kant ging es gegen die „lügenhafte Publizität“ und also um die „Benachrichtigung der Öffentlichkeit über den wirklichen Zustand der Verfassung“, um das Aussprechen dessen, was ist; nicht im Sinne einer Verbraucherberatung für mündige Wähler und postmoderne Staatsbürger, sondern, ganz Marx, um dem Elend das Bewußtsein des Elends hinzuzufügen, damit es unerträglich werde. Versteht sich, daß Johannes Agnoli für die handelsübliche Polemik gegen den „Machiavellismus“ nur Hohn übrig hatte. Denn Machiavell – nebenbei kein Fürstenknecht, sondern militanter Republikaner – hatte nur das Geheimnis aller Staatlichkeit und aller als Politik organisierten Herrschaft von Menschen über Menschen so laut und penetrant ausgesprochen wie nur Marx das über Wert, Geld, Kapital. Es sind die einfachen, elementaren Wahrheiten über den Staat, mit denen die Kritik der Politik beginnt: „Denn wo viele sündigen, wird keiner bestraft“, sagt Machiavell in seiner „Geschichte von Florenz“: „Kleine Vergehen werden gezüchtigt, große und ernste gelohnt. Und wo viele leiden, suchen wenige sich zu rächen, indem ein allgemeines Übel leichter und geduldiger sich erträgt als ein persönliches.“

Das Elementare über den Staat auszusprechen, das impliziert, jede Entgegensetzung von Recht und Gewalt, von Konsens und Willkür, von Bundesverfassungsgericht und Bundeswehr zu vermeiden – die Staatlichkeit des Kapitals, die Souveränität, ist die vermittelte Einheit beider Momente; und die „Kritik der Politik“, die Johannes Agnoli als Fortsetzung, Ergänzung und Radikalisierung der marxschen Kritik der politischen Ökonomie in Schriften wie „Die Transformation der Demokratie“ (1967) oder „Der Staat des Kapitals“ (1975) darlegte, zielt darauf, dem Staat jedwede Legitimität als Ausdruck sei’s der Volkssouveränität sei’s des Menschenrechts zu bestreiten. Das Einfache des Staates ist, daß, wo die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen besteht, die politische Form dieses Verhältnis nur die der Herrschaft sein kann. Daraus folgt: der Staat ist kein Mittel zu irgendeinem Zweck, den der Garantie der Akkumulation des Kapitals ausgenommen, kein Hebel zum Sozialismus, auch nicht zur grünalternativen Zivilgesellschaft. Johannes Agnoli hat die Quintessenz dieser Perspektive gezogen und sich damit selbst aus den hochmögenden Kreisen der Politikwissenschaft spediert: es geht nicht darum, die Herrschaft besser zu verwalten, zu demokratisieren oder zu sozialisieren, nicht darum, den Staat „aufzuheben“ – es geht um die „Zerstörung des Staates“, um seine „Abschaffung“, um die kommunistische Aufhebung der Anarchie in die staatenlose Assoziation und darum, „das Nachdenken über eine andere Form der gesellschaftlichen Synthesis zu befördern.“ Denn der Staat, so wendet sich Agnoli doch gegen den Autor des „Principe“, ist alles andere als ein anthropologisches Existential und der „Leviathan“ des Bürgers Hobbes allerdings die allgemeine Unwahrheit, aus der in Deutschland der Behemoth nur werden konnte.

In alle Zukunft werden wir Johannes Agnoli nun vermissen müssen, seinen Charme, seine revolutionäre Geduld und machiavellische Ironie, die Weise, wie er das organisierte Nein sagte. Wie sein früh verstorbener Genosse Peter Brückner ist er ein Partisanenprofessor gewesen im Lande der Mitläufer, einer, den man jetzt zur Revanche aus den Verzeichnissen des Herrschaftswissens streichen wird, ein Betriebsunfall und einer, der, wie die „Frankfurter Allgemeine“ einmal gutachtete, „am Bedarf vorbei“ geschrieben, gedacht, gelehrt und gelebt hat: einer, der am besten nie gewesen wäre. Was Herrschaft als überflüssig befindet, das macht den Begriff der Subversion eben aus: Johannes Agnoli hat den Antagonismus gedacht und die Revolution, nicht, um daraus eine subversive Theorie zu verfertigen, sondern zum Zweck der kategorischen Kritik. Tante Grazie.

Joachim Bruhn