Aus
einem Gespräch mit Joschka Fischer über Evolution und Revolution in
der FAZ:
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Gewalt in demokratischen Revolutionen
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68 als Gründungsakt
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Marx' Aktualität
... gekürzt ...
Forschung läßt sich aber nicht aufhalten.
Richtig. Ich bin überzeugter Anhänger der Wissenschaftsfreiheit. Die
Konsequenz wäre ein Zurück zur Unterdrückung wissenschaftlichen
Forschens, der wissenschaftlichen Neugierde. Der Prozeß der Neugierde
kann nur an sich selbst scheitern, aber er ist nicht unterdrückbar.
Sie sagen und schreiben: Wir stehen vor einem neuen Epochenbruch. Ich
frage mich, ob wir über nichts Geringeres diskutieren als über die
Verabschiedung des Homo sapiens. Was heißt: Der sich selbst
verfertigende Mensch wäre dann die nächste Stufe. Das ist kein
Epochenwechsel mehr, das wird ein viel tieferer Wandel. Das wird sich
schleichend an vielen einzelnen Punkten ereignen. Lesen Sie die Rede
des Bundespräsidenten vom 26. Januar. Wenn man sie weiterdenkt, stößt
man auf den Punkt: Was darf Wissenschaft, respektive wenn sie der
Meinung ist, sie muß etwas dürfen können, was braucht sie dazu an
moralisch-ethisch-kultureller Fundierung? Diese Frage muß
Wissenschaft beantworten, und dies wird man von ihr auch verlangen müssen.
Aber kann sie das allein? Sie muß es ja aus der Gesellschaft
heraus.
Na, die Gesellschaft ist erst mal ein Anonymum, es ist nicht die
Gesellschaft, das ist immer eine Flucht ins Ungefähre. Wissenschaft
findet in der westlichen Zivilisation vor allem an den Universitäten
statt. Die Universitas, wenn sie noch einen Sinn macht, wenn sie mehr
ist als ein Wissenschaftsagglomerat, ist hier gefragt. Es ist nichts,
was Wall Street zu beantworten hat oder die Frankfurter Börse. Es ist
auch die Frage an die Philosophie, an die Theologie, es ist eine
ganzheitliche Herausforderung, der sich die Wissenschaft als ganze
stellen muß.
Aber es gibt in unserer Gesellschaft, das sage ich dazu, kaum noch Autoritäten,
das heißt . . .
Das muß ja nicht schlecht sein. Man kann es auch so sagen: Wer da über
diese Schwelle will, der muß eine andere Dimension von Prüfungen
ablegen, der kann das nicht mit dem Führerschein fürs Dreirad, das
wir als Homo sapiens mitbringen, und dort weiterfahren wollen, sondern
der steigt um in, was die Evolution betrifft, ein Düsenzeitalter. Ob
wir zivilisatorisch dies bewältigen können? Wir verabschieden den
Zufall, die Kontingenz der Evolution. Unsere ganze Spezies ist das
Ergebnis von deren großem Würfelspiel. Und dieses Würfelspiel setzt
voraus, daß diese Baupläne in den einzelnen Individuen, aber auch in
den Spezies veränderlich sind, das heißt, daß es Mutationen gibt.
Und der moralische Respekt, den jeder einem behinderten Menschen
entgegenbringt, begründet sich auch darin, daß dieses Würfelspiel
die Grundlage für unsere gemeinsame Existenz als Menschen ist. Wenn
wir das alles ausschalten, bezahlen wir dafür einen Preis. Und dann
wird es nicht mehr die Kontingenz der Evolution sein, sondern dann
wird es vielleicht der Murks eines montags schlechtgelaunten
Bioingenieurs sein oder von irgend jemandem sonst, der sich da vertan
hat, man hat es zu spät gemerkt, es war nicht mehr reparabel. Will
man das, will man das wirklich? Welchen Preis werden wir bezahlen für
das Auslöschen von Erbkrankheiten? Was wird man dürfen? Rechtliche
Frage und ethische Frage. Was wird man wollen? Politische Frage und
auch rechtliche Frage, nämlich daraus folgt das, was man dürfen
wird. Und insofern, denke ich, wird es natürlich auch weitgehende
Konsequenzen haben, die zu internationalen Konventionen führen müssen.
Ich bin nachdrücklich dafür, an dem Punkt neige ich nun wirklich
zu einer eher konservativeren Gangart, hier eher auf der sicheren
Seite zu stehen als Bundesrepublik Deutschland.
Verblüfft es Sie nicht, daß eine relativ harmlose Sache wie die Volkszählung
zu riesigem aufrührerischem Aktivismus führte und jetzt so wenig
mobilisiert ist an gesellschaftlicher Diskussionsenergie dort?
Ich glaube nicht, daß es so bleiben wird. Die Mobilisierung wird
zunehmen, in dem Moment, wo sich die Negativseiten der neuen
Technologien in den Vordergrund schieben. Ich bin mir sicher, daß es
dann entsprechende gesellschaftliche Gegenreaktionen geben wird. Was
wir an der Börse als Boom in der Biotechnologie und anderen
High-Tech-Bereichen erlebt haben, das war ein typisches gründerzeitliches
Phänomen. Nehmen Sie das Buch von Sebastian Haffner, dieses
wunderbare, großartige, zauberhafte Buch, das er 1939 geschrieben hat
und das nun wirklich für mich die Epistel deutscher Leitkultur ist
- das kann ich Herrn Merz nur empfehlen, auch und gerade, was Haffner
dort über Deutschland schreibt. Er zeigt dort ja, daß Deutschland
überhaupt nicht zum Nationalismus paßt und in keinem Land der Erde
Nationalismus solche verheerende Wirkung haben wird wie in
Deutschland, und Haffner begründet auch, warum. Das soll der Merz
sich alles mal hinter seine Ohren schreiben. Da also beschreibt
Haffner die damalige Gründerzeit, wo plötzlich ein Einundzwanzigjähriger
Bankdirektor wird - das hat sich schnell wieder gegeben, das gibt sich
jetzt auch wieder schnell -, das sind spekulative Gründerzeiten, das
renkt sich wieder ein, da machen Sie sich weniger Sorgen. Die Sache
selbst ist brisanter.
Ich will ja nur als Quasi-Marxist mal . . .
Bei Marx gibt es wunderbare Schilderungen der ersten großen
Finanzkrise, nämlich die sogenannte Tulpenzwiebelspekulation im
sechzehnten, siebzehnten Jahrhundert in Holland, in der Blüte des
holländischen Kapitalismus, wo plötzlich alle der Meinung waren, daß
Tulpenzwiebeln eine Werthaltigkeit hätten, die unglaublich wäre, und
gewaltige Vermögen in Tulpenzwiebeln gemacht und angelegt wurden, bis
irgendwann dann einer erkannte, daß eine Tulpenzwiebel eine
Tulpenzwiebel ist und eben nicht in Gold und Diamanten aufzuwiegen
war. Und diese Erkenntnis griff um sich, und es war ein Ende mit
dieser gewaltigen Spekulation. Und so ist es bei allen großen
Spekulationen.
Einer Ihrer Freunde erzählt, wie es einmal vor vielen, vielen
Jahren spät nachts an seiner Tür klopfte und Sie davorstanden und
erschöpft, aber triumphierend sagten: Ich habe jetzt den letzten Band
von Marx' "Kapital" zu Ende gelesen. Würden Sie heute
sagen, die Mühe hat sich gelohnt?
O ja. Marx als "Kirchenvater" ist mausetot. Aber Marx als
Sozialhistoriker und als Soziologen halte ich für unglaublich
aktuell.
Hat Sie das in Dialektik geschult?
Sicher. Und das hilft vor allem bei der Bestimmung deutscher Außenpolitik,
die ohne Dialektik schwer denkbar ist. Marx als Historiker und
Soziologe wird Bestand haben, wenn Sie seine moralisierenden
eschatologischen Teile wegnehmen, also daß allein aus der Tatsache
der Unterdrückung die Freiheit folgt, wenn Sie seine auch autoritäre
Vorstellung von Klassenkampf weglassen, nicht aber seine Geschichte
von Klassenkämpfen, seine historische Analyse und Methode, die sich
daran entwickelt, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt, das Verhältnis
von Produktivkräften und von Produktionsverhältnissen
gesellschaftliche Entwicklungen bestimmt, diese großartige Passage,
der erste Teil des Kommunistischen Manifests, der Apotheose der
Globalisierung damals und heute war und nicht umsonst von den
konservativen Zeitungen wie der NZZ und F.A.Z. nach dem Ende des
Kalten Krieges im Zeitalter der Frühphase der Globalisierung
wiederentdeckt wurde, die Darstellung der Entwicklung des
Kapitalismus, die ursprüngliche Akkumulation, das alles und vieles
mehr, ist aus meiner Sicht von bleibender Aktualität genauso wie Max
Weber.
Und Darwin?
Darwin kenne ich weniger gut. Mag sein.
Sie verteidigen die Zufälligkeit, die Kontingenz der Evolution
gegen die Planbarkeit. Das sind Parameter, die auffällig sind:
Verteidigen Sie nicht auch das zufällige Leben gegen die geplante
Karriere? Eine Biographie ist nicht von A bis Z durchgeplant, sondern
sie ist Evolution und kann durch zufällige Ereignisse überraschende
Wendungen nehmen. Evolution heißt: Ein Streetfighter wird Außenminister.
In Deutschland scheint das im Augenblick, wenn man an die
Achtundsechziger-Debatte denkt, nicht von allen geteilt zu werden.
Wenn's nur die Biographie wäre, würde ich sagen: okay. Aber wir
nehmen uns doch einen Teil unserer eigenen Geschichte, auch als
Demokratie. Und das ist eher bedenklich in einem Land, das nicht
gerade eine stark ausgeprägte historische Identität als bürgerliche
Demokratie hat. Wir gründen nicht auf einem revolutionären
Freiheitsakt wie viele andere Länder. Deshalb tun wir uns auch,
anders als unsere Nachbarn, mit der Gewaltfrage so schwer. Überall
dort, wo moderne Staatsräson, moderne Demokratie auf einem großen
Freiheitsakt, meistens gewaltsamen Freiheitsakt gründet, ist die
Frage der Gewalt fest verankert in der kollektiven Identität über
die Generationen hinweg: Was ist erlaubt, was ist nicht erlaubt?
Und das machte übrigens für mich immer auch den Unterschied zu einem
amerikanischen Konservativen wie Ronald Reagan oder zu Maggie Thatcher
aus, die beide fest verankert waren in der Tradition der
amerikanischen Revolution oder auch der britischen parlamentarischen
Tradition, oder zu einem deutschen Konservativen wie Alfred Dregger.
Dieselben Sätze sind dort anders, und dieselben Positionen, die ich
nicht geteilt habe, waren dennoch anders, nämlich letztendlich in
einem revolutionären Gründungsakt begründet.
In einem Aufstand . . .
In einem Freiheitsakt, in einem Freiheitskampf. Das sage ich, ohne
achtundsechzig verfremden, überhöhen zu wollen - jede Revolution
oder Revolte hat auch ihre Negativseiten, und das wird man bei allen
großen historischen Ereignissen oder auch kleineren historischen
Ereignissen sehen, es gibt den unbefleckten Freiheitskämpfer nur sehr
selten, und es gibt die unbefleckte Freiheitsrevolution nur sehr
selten. Und es gibt große Irrtümer, und es gibt auch die
Verantwortung dafür. Dazu muß man und auch ich stehen, und das darf
nicht mit der Gloriole weggedrückt werden und gesagt werden: Wo
gehobelt wird, da fallen Späne. Aber das ist in der aktuellen Debatte
alles nicht der Punkt, nur: Wir haben nicht so viele dieser
Traditionen, daß man achtundsechzig vergessen könnte. Und es ist
fast zu bedauern, daß die Debatte über achtundsechzig als einen Gründungsakt
- da war irgendwo ein Gründungsakt, sonst würden wir nicht immer
wieder darüber streiten - und so eng geführt wird. Ich halte es
auch für einen großen Irrtum, achtundsechzig und die folgenden Jahre
zu trennen. Sie sind zumindest biographisch, aber auch politisch nicht
zu trennen. Wenn man das alles versucht wegzudrücken, dann wird man
am Ende zum Schlemihl ohne Schatten. Die heute Fünfunddreißigjährigen
müssen sich fragen, ob sie eines Tages nicht wirklich ohne Schatten
sein werden und ob man das wollen soll, ein Mensch ohne Schatten oder
eine Demokratie ohne Schatten; denn wo Licht ist, fällt Schatten. Und
wenn dieser Schatten weg ist, wenn man den versucht wegzunehmen, dann
verliert man woanders. Mehr aber will ich jetzt nicht sagen.
...
Waren nicht die Grünen lange Zeit Kulturersatz? Identitätsersatz?
Avantgarde-Ersatz? Eine Partei, die mit einer Vision begonnen hat und
. . .
Wir waren die Partei, die machtpolitisch gebündelt hat, was von
achtundsechzig bis hin zur Friedensbewegung an Revolten und sozialen
Bewegungen jenseits des sehr engen Spektrums der alten
Bundesrepublik-West sich entwickelt hat. Von 1990 an kam dann die
Tradition der Bürgerbewegungen der DDR mit dem Bündnis 90 hinein.
Protestbewegungen West und Ost haben sich in unserer Partei gefunden.
All das haben wir umgesetzt in Programme, deren utopischer Überschuß
uns vorangetrieben hat. Die Grünen haben diese Phase ausgestritten.
Und jetzt müssen wir uns neu erfinden. Wir müssen zugleich auch
Tradition bilden, und als junge Partei sind wir Traditionsbildung
nicht gewöhnt. Nur nochmals: Die zentralen Diskurse, die zentralen
Themen der gesellschaftlichen Entwicklung übersteigen die Möglichkeit
einer Partei. Eine Partei tritt eher dann auf den Plan, wenn Kunst,
wenn Wissenschaft, wenn meinetwegen auch die Straße gesprochen hat,
wenn die Konflikte offenbar wurden, wenn die neuen Konsense gefunden
werden müssen, aber dazu muß erst mal der Dissens offengelegt
werden, der Status quo erschüttert sein, damit ein neuer Status quo -
und das ist die Aufgabe der Politik - gefunden werden kann. Sie müssen
da eher mit den Dreißigjährigen und Fünfunddreißigjährigen und Fünfundzwanzigjährigen
sprechen und nicht mit mir.
Eine letzte Frage nach politischer Kultur. Sie erleben eine
schlimme Zeit. Und Helmut Kohl, dem dieses Land sehr viel zu verdanken
hat, hat diese Zeit der Demontage ja auch erlebt. Haben Sie in den
letzten Wochen nicht auch manchmal gedacht, daß wir mit Biographien
und Lebensleistungen zu erbarmungslos umgehen. Bedauern Sie das nicht?
Nein. Für mich macht die Faszination der Demokratie ihr bürgerlich-revolutionärer
Charakter aus. Eigentlich etwas, was in Deutschland eher ungewöhnlich
ist. Und Politik: Ich meinte in den siebziger Jahren, da geht's um
die Letzten Dinge. Das war mein großer Irrtum, da geht's immer nur um
die vorletzten Dinge, auch manchmal ganz triviale Dinge. Die
demokratische Machtfrage wohnt in jedem Bürger. Jeder ficht das täglich
aus. Jeder will seine Interessen durchsetzen, sein Prestige wahren,
sein Einkommen verbessern, seine Position verbessern. Wenn achtzig
Millionen das wollen, dann ist da einiges los! Das strukturiert sich
durch Verfassung, Gesetze, Parteien, Öffentlichkeit, aber die
Antriebskraft - das ist der Stoff, aus dem Politik wird, die Energien
und Interessen von achtzig Millionen machen die deutsche Demokratie
aus. Dazu gibt es Öffentlichkeit, da sitzen Journalisten, die wollen
was werden, und haben ihren Jagdinstinkt. Mir ist das alles nicht
fremd. Das ist Teil der politischen Auseinandersetzung, und man muß
in der Politik vor allem einstecken können. Das gehört dazu. Es ist
sogar wichtiger, als austeilen zu können, und dennoch voranzukommen
und weiterzumachen. Verstehen Sie, Politik ist immer die Mischung aus
Menschlichem und einer politischen Frage, einer Sach- und Machtfrage.
Beides können Sie nicht voneinander trennen. Die Sachfrage, für sich
genommen, erstirbt in Langeweile. Die Verbindung mit Personen macht
die Faszination des Politischen in der Demokratie aus. Ansonsten geht
es ganz überwiegend menschlicher als unmenschlich zu. Ich mag keinen
Sonntagsbegriff von Politik, deswegen bin ich immer auch für ein
Parlament, in dem es fetzt, in dem es durchaus mal ungerecht zugehen
mag, in dem auch überzogen wird, in dem man sich - nicht im
Regelfall, aber gelegentlich - durchaus auch weh tun kann. Demokratie
eliminiert nicht die Kräfte, die zu Tragödien führen können,
sondern muß auch diese Kräfte zum Ausdruck bringen in ziviler Form,
durch Regeln gebändigt, in harten Auseinandersetzungen. Sonst lebt
Demokratie nicht. Und insofern: Das waren und sind harte Wochen für
mich. Aber das gehört dazu.
Das Gespräch führte Frank Schirrmacher.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.02.2001, Nr. 41 / Seite 43
Das
vollständige Interview
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