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Peter Brandt:
Dutschkes Deutschland
Vorwärts-Blog, 12.2.2012
Weder Ost noch West
– ein unabhängiger Linkssozialismus im geteilten Deutschland –
Überlegungen anlässlich des Erscheinens eines Buches von Tilman Fichter
und Siegward Lönnendonker.
Der Ost-West-Konflikt während der viereinhalb Jahrzehnte nach
dem Ende des Zweiten Weltkriegs, insbesondere in der Phase des offenen
Kalten Krieges zwischen den späten 40er und den frühen 60er Jahren,
hatte die Tendenz, sich alle politischen und sozialen Konflikte unter-
bzw. zuzuordnen, auch wenn sie eigentlich gar nicht in das Schema der
Blockkonfrontation passten. Die bestehenden Systeme, deren eine Vormacht
den Anspruch erhob, für die Freiheit in der Welt zuständig zu sein, die
andere sich zuständig für sozialen Fortschritt erklärte, und ihre
bedingungslosen Anhänger waren stets schnell dabei, innere Opposition,
vor allem wenn sie grundsätzlicher Art war, der „anderen Seite“
zuzuordnen.
Dieses Deutungsschemas bediente man sich im Ostblock plumper als im
westlichen Block, und die Konsequenzen waren weit unangenehmer für die
Kritiker des Poststalinismus im Osten als für Antikapitalisten und
Radikaldemokraten im Westen (jedenfalls in der nördlichen Hemisphäre),
doch die Logik war die gleiche. „Objektiv“, so hieß es, nutze der
Widerspruch gegen die jeweils kanonisierten Glaubenssätze nur dem Gegner
im Systemkonflikt. Während die Existenz eines vermeintlich
sozialistischen Kontrahenten in den kapitalistischen Ländern die
materiellen und sozialpolitischen Zugeständnisse an die breiten Massen
(und damit die gemäßigten Gewerkschaften sowie teilweise auch die
Sozialdemokratie) zweifellos begünstigte, trug die Anschauung der im
Wettbewerb mit dem Westen materiell zurück bleibenden, jede unabhängige
Regung unterdrückende Diktatur der Nomenklatura im Osten zur
Marginalisierung unabhängiger Bestrebungen auf beiden Seiten der
Konfrontationslinie der Blöcke bei.
Besonders offenkundig war dieser Mechanismus in Deutschland, dessen
staatliche Teilung anfangs von allen politischen Formationen nur als
eine vorläufige verstanden werden konnte. Die Teilung verschaffte in
beiden Fragmenten Kräften Vorrang, die unter anderen Umständen sicher
bzw. wahrscheinlich in der Minderheit geblieben wären: den
sowjetorientierten Kommunisten um Walter Ulbricht einerseits, dem
katholisch geführten, westorientierten Flügel des bürgerlichen Lagers um
Konrad Adenauer anderseits. Leidtragend war in beiden Staaten die
sozialdemokratische Arbeiterbewegung, deren Potential teils durch die
Zwangsfusion mit der KPD, teils durch die Abtrennung der alten
Hochburgen östlich der Elbe gewissermaßen neutralisiert wurde.
Nach der – wie plausibel auch immer begründeten – Akzeptierung der
gesellschaftspolitischen wie der außen- und sicherheitspolitischen
Weichenstellungen der ersten beiden Regierungen Adenauer durch die SPD
1959/60 wären Vertreter der früheren sozialdemokratischen
Grundpositionen heimatlos geworden, hätte es nicht den SPD-nahen
Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) gegeben, der in den Jahren
des sich seit 1964/65 abzeichnenden Wiederanwachsens
radikal-oppositioneller Strömungen in Westdeutschland (und West-Berlin)
zum Kristallisationspunkt einer „Neuen Linken“ zwischen (oder besser:
neben) Parteikommunismus und weitgehend integrierter Sozialdemokratie
wurde, eine Entwicklung, die auch international zu beobachten war.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, sind einzelne Zeithistoriker
und Journalisten seit den 90er Jahren eifrig bemüht, die
Protestbewegungen und die Fundamentalopposition in der Bundesrepublik
seit den 50er Jahren als nicht nur objektiv den Interessen der SED
dienend, sondern auch von Agenten des DDR-Staatssicherheitsdienstes
angeleitet, zumindest in hohem Maß beeinflusst darzustellen. Politisch
handelt es sich darum, die Legitimität kapitalismuskritischer Positionen
prinzipiell in Frage zu stellen. Das Beweismaterial für die behauptete
Fernsteuerung ist in den zentralen Punkten alles andere als überzeugend.
Gewiss gab es solche Versuche, und bestimmte Sektoren der westdeutschen
Linken gerieten wiederholt unter direkten oder indirekten SED-Einfluss.
Pauschal gilt das keineswegs, und es gilt am wenigsten für die
linkssozialistische Haupttendenz des SDS in den späten 50er und frühen
60er Jahren sowie für dessen (schließlich mehrheitlichen)
antiautoritären Flügel in den mittleren und späten 60er Jahren.
Das ist eines der Ergebnisse der kürzlich erschienenen Untersuchung von
Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker über den SDS, die nationale
Frage und die DDR-Kritik von links. Obwohl der legendäre Rudi Dutschke
zu Recht einen prominenten Platz einnimmt, behandelt das Buch der beiden
Experten – aus ihrer Feder stammen mehrere einschlägige Werke – die
gesamte Wirkungszeit des Verbandes seit seiner Gründung 1946.
Vorsitzender war damals Helmut Schmidt.
Als besonders fruchtbar für das Verständnis der Entwicklung des SDS
erweist sich erneut das Konzept unterschiedlicher, durch die jeweiligen
Lebenserfahrungen geprägten Generationen. Ohne die
generationsspezifischen Erfahrungen bleiben (nicht nur in diesem Fall)
die politisch-ideologischen Auseinandersetzungen unwirklich abgehoben,
ihre Nachzeichnung im schlechten Sinne idealistisch.
Fichters und Lönnendonkers Darstellung wird ergänzt um einen mehr als
die Hälfte umfassenden, nicht nur instruktiven, sondern auch eigene
Studien anregenden Dokumententeil, der dem Leser bis zu einem bestimmten
Grad ermöglicht, die Interpretation der Autoren selbst zu überprüfen. Er
beginnt mit einer Stellungnahme der SDS-Zeitschrift „Unser Standpunkt“
vom Juli 1953 zum vorangegangenen Arbeiteraufstand vom 17. Juni in der
DDR: „Die gerechte Sache wird siegen“, und endet mit zwei als
Erwiderungen geschriebenen Artikeln der beteiligten Zeitzeugen Jürgen
Seifert und Urs Müller-Plantenberg aus den Jahren 1998 und 2009,
dazwischen 20 thematisch einschlägige Resolutionen, Positionspapiere,
Reden und Interviews aus und zu der untersuchten Zeit, überwiegend mit
Quellencharakter. Darunter befindet sich der Auszug des Protokolls einer
zum 30. Jahrestag der doppeldeutschen Staatsgründung 1979
stattgefundenen Diskussionsveranstaltung, an der u. a. Egon Bahr, Rudi
Dutschke, Tilman Fichter und Peter Glotz beteiligt waren.
Die Autoren nennen den selbst verfassten Teil im zweiten Untertitel eine
„deutschlandpolitische Streitschrift“. Diese Bezeichnung passt nur
bedingt. Es handelt sich um eine in der Deutung bewusst zugespitzte und
in geschichtspolitischer Absicht verfasste zeithistorische Abhandlung,
die ausgesprochen meinungsfreudig daher kommt. Die einzelnen Handlungen
und Stellungnahmen der Akteure der Geschichtserzählung werden nicht nur
im Sinne eines (meist plausiblen) analytischen Sachurteils, sondern
häufig auch politisch wertend kommentiert. Es ist aber stets erkennbar,
auf welcher Ebene die Urteile angesiedelt sind, so dass die Darstellung
auch für Leser Gewinn bringt, die den Wertungen nicht folgen möchten.
Zudem trägt das skizzierte, gewissermaßen als intensive Ansprache des
Lesers zu verstehende, manchmal gewöhnungsbedürftige
Kommentierungsverfahren zur Lebendigkeit des ausgesprochen gut lesbaren
Werkes bei.
Eine wertvolle Ergänzung und historisch-politische Einordnung liefern
die beiden Vorworte von Rolf Schneider, dem SED-kritischen
Schriftsteller aus der DDR, und Christian Semler, dem SDS-Aktivisten,
dem Funktionär einer maoistischen Gruppierung und späteren unabhängigen
linken Journalisten; beide gehörten in der Periode der betonierten
Zweistaatlichkeit zu denjenigen, die ein ausgeprägtes Gespür für die
andauernde potentielle Brisanz der „deutschen Frage“ entwickelt hatten.
Auch in diesen Vorworten spiegelt sich die Leidenschaft, die das Thema
seit jeher begleitet und die die Hauptverfasser Tilman Fichter und
Siegward Lönnendonker umtreibt. Sie artikulieren, was sie seit jeher
vertreten haben: dass sich die deutsche Linke (in des Wortes denkbar
weitester Bedeutung) auf äußerst dünnem Eis bewegt, solange sie nicht zu
einer realistischen, durchaus kritisch-selbstkritischen, doch nicht
allein negativen Einstellung zu Volk und Nation, namentlich zur
deutschen Einheit, (zurück-)findet. Eine solche Position als
„deutschnational“ oder „nationalistisch“ zu bezeichnen, wie es heute
bisweilen geschieht, ist schlicht abwegig.
Anders als es eine zählebige Mär wissen will, war internationales Denken
und Empfinden in der Geschichte der Arbeiterbewegung bzw. der Linken
nicht mit einer anti- oder anationalen Haltung identisch – das gilt
übrigens auch für den kommunistischen Zweig –, zumal wenn ein so
unübersehbares nationales Problem existierte wie im
Nachkriegsdeutschland die staatliche und gesellschaftliche Spaltung des
Landes. Es handelte sich vielmehr darum, Problemstellungen und
Lösungsansätze zu artikulieren, die die Aufhebung der Teilung mit dem
humanitären, friedenspolitischen und sozialemanzipatorischen
Zielhorizont verband. In den 50er Jahren zogen SPD und SDS diesbezüglich
noch an einem Strang: im Widerstand gegen die beiderseitige militärische
Pakteinbindung von BRD und DDR sowie die Atombewaffnung der Bundeswehr
und die Stationierung von amerikanischen Atomwaffen auf westdeutschem
Territorium bzw. bei der Forderung nach Schaffung einer militärisch
verdünnten und paktfreien Zone in Mitteleuropa.
Anders in den 60er Jahren, nach der Trennung der SPD und SDS, endgültig
verbrieft im Unvereinbarkeitsbeschluss vom November 1961, als der
Studentenbund, zunächst an alten Positionen festhaltend, wie sie noch im
sozialdemokratischen Deutschlandplan vom 18. März 1959 niedergelegt
worden waren, nach und nach ganz eigene Standpunkte erarbeitete, die
Partei hingegen, in der gesellschaftspolitischen Programmatik eine eher
sozial-liberale Richtung einschlagend, nach dem Mauerbau (13.08.1961)
sukzessive einen neuen Ost- und deutschlandpolitischen Ansatz
konzipierte und in Berlin erprobte. Dieser ging vom Status quo der
Teilung und der westlich-östlichen Pakteinbindung aus, um in einem
längeren Entspannungsprozess „mit vielen Schritten und vielen Stationen“
(Egon Bahr 1963 in Bad Tutzing) eines Tages zur Überwindung dieser
Situation und der damit verbundenen Feindbildblockade zu kommen.
Als sich ab Mitte der 60er Jahre die Konturen einer linken
Außerparlamentarischen Opposition (APO) mit „antiautoritärer“
Stoßrichtung in der Bundesrepublik und namentlich in West-Berlin
abzeichneten, als deren vielleicht wichtigster Protagonist sich der aus
der DDR geflohene Rudi Dutschke profilierte, geriet diese bis Ende des
Jahrzehnts Einfluss auf wohl die Mehrheit der Studierenden und
beträchtliche Teile der Gymnasiasten und Lehrlinge gewinnende, in eine
Art Jugendrevolte mündende antiautoritäre Bewegung naturgemäß in
Gegensatz zu der auf die Große Koalition der Jahre 1966-69 zielende
Gemeinsamkeitsstrategie der SPD, die der innenpolitischen Polarisierung
der frühen 70er Jahre vorausging.
Wie die sozialdemokratischen Vordenker der Neuen Ostpolitik waren auch
Dutschke und seine engeren Gefährten davon überzeugt, dass die deutsche
Frage durch die Zweistaatlichkeit und das der Selbsterhaltung dienende
Arrangement der Supermächte in Europa nach der Kuba-Krise vom Herbst
1962 nicht gelöst, sondern nur entschärft und quasi auf Eis gelegt sei.
Die SPD-Ostpolitiker waren zwangsläufig auf eine schrittweise
Erleichterung der gegebenen Verhältnisse auf dem Verhandlungsweg
verwiesen, wobei die Machtinteressen aller Beteiligten berücksichtigt
werden mussten. Die beide Systeme ablehnende Fundamentalopposition des
antiautoritären SDS entwickelte einen scharfen kritischen Blick für die
Staatsfixierung und die diplomatische Befangenheit der
sozialdemokratischen Deutschlandpolitik, befand sich indessen in der
komfortablen Position, ihr keine konkreten Vorschläge für Regierungs-
und Parteihandeln entgegensetzen zu müssen. Die „große
Verweigerungsrevolution“ (Rudi Dutschke) würde, so meinte man, ohnehin
andere Wege gehen.
Als Egon Bahr und Rudi Dutschke rund ein Jahrzehnt später öffentlich
direkt miteinander diskutierten (Dok. 20, S. 246-275 des Buches von
Fichter/Lönnendonker), verstanden sie sich wechselseitig einfach nicht.
Dutschke setzte weiterhin auf Basisbewegungen beiderseits der
Blockgrenze. Es ging ihm darum, dass diese sich positiv und bewusst
aufeinander bezögen, sich im Kampf um radikale Demokratisierung und
soziale Emanzipation als Verbündete begreifen sollten, statt dem
Ost-West-Reflex (der Feind meines Feindes ist mein Freund) zu folgen.
Staatliche Politik und Politik von Großorganisationen, die die erstrebte
Annäherung von unten (in Deutschland fast automatisch die nationale
Frage aktualisierend) tatsächlich oder vermeintlich behinderten, stieß
auf Vorbehalte, Kritik oder offenen Ablehnung.
Für Egon Bahr, dem es nicht zuletzt stets um die dauerhafte Beseitigung
der Kriegsgefahr als Vorbedingung eines jeden konstruktiven Handels
ging, dachte in Anbetracht dessen Politik in der Tat von oben her und
sah in unkontrollierten, unberechenbaren Massenbewegungen, namentlich im
östlichen Europa, vor allem die Risiken. Für ihn führte der Weg zur
Quasi-Sozialdemokratisierung des Ostblocks und zur Einheit Deutschlands
über die immer engere Verzahnung beider Paktsysteme und in ihrer Mitte
insbesondere beider deutschen Staaten, wobei er die gedankliche
Konsequenz nicht scheute, dass auf diesem langen Weg eine
Liberalisierung der DDR zunächst deren innere und äußere Stabilisierung
voraussetze.
Nun lässt sich nicht übersehen, dass sich große Teile des
linkssozialistischen, sozialdemokratischen und linksliberalen Spektrums
in der Bundesrepublik (West) im Verlauf der 60er, dann vor allem der
70er und 80er Jahre von einer gesamtdeutschen Orientierung gleich
welcher Art entfernten und/oder (das musste nicht Hand in Hand gehen)
die Ordnung des „real existierenden Sozialismus“ in Mittel- und
Osteuropa als unveränderbares, wenn nicht sogar historisch progressives
Faktum ansahen, dessen Gestaltung die West-Linke nichts anginge. Dieser
Trend, dessen gesellschaftliche und politische Gründe vielfältig waren,
machte dezidierte Gesamtdeutsche zu Vertretern einer Minderheit, wenn
auch die Friedensbewegung und die Stationierungsdebatte der frühen 80er
Jahre („Nachrüstung“) manche Problemstellungen der 50er Jahre und damit
auch die nationale Frage indirekt reaktivierte.
In der Funktionärsschicht der SPD wie in der breiten Mitgliedschaft war
das Verständnis sowohl für die sozialemanzipatorische Substanz eines
Ansatzes der Entspannung von unten und einer Status-quo-Überwindung
durch dialektische Konvergenz als auch – andererseits – einer
langfristigen und graduellen Umgestaltung der Blockarchitektur Europas,
mit der deutschen Teilung als Scharnier, vermittels der Fortführung und
Weiterentwicklung der herkömmlichen Entspannungspolitik Ende der 80er
Jahre nur noch schwach ausgeprägt. Insofern besteht auch nach Fichters/Lönnendonkers
Schrift weiterhin Bedarf an kritischer Analyse und selbstkritischer
Reflexion des Zustands der Sozialdemokratie bzw. der Linken während des
Umbruchs 1989/90.
Umso wichtiger ist es, der Denunziationsmaschinerie Contra zu geben,
die, nicht enden wollend, darauf ausgerichtet ist, diejenigen
politischen Kräfte, indem sie mit der SED in Verbindung gebracht werden,
zu entlegitimieren, die jüngst endlich dabei voran zu kommen scheinen,
den im Zeichen des Neoliberalismus dominierenden abstrakten
Freiheitsdiskurs mit der Wiederauflebung eines sozialen Diskurses
herauszufordern.
Tilman Fichter/Siegward Lönnendonker: "Dutschkes Deutschland. Der
Sozialistische Deutsche Studentenbund, die nationale Frage und die
DDR-Kritik von links. Eine deutschlandpolitische Streitschrift mit
Dokumenten von Michael Mauke bis Rudi Dutschke" Mit einem Vorwort aus
östlicher Sicht von Rolf Schneider und einem Vorwort aus westlicher
Sicht von Christian Semler, Klartext-Verlag, Essen 2011, 318 Seiten,
19,95 Euro, ISBN 978-3-8375-0693-8
Siehe ergänzend: Dieter Groth/Peter Brandt: „Vaterlandslose Gesellen“.
Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992.
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